Die Pandemie hat unser Leben maßgeblich verändert. Rückblick auf ein Jahr, das eine nie dagewesene Welle von Weltverschwörungstheorien in die Mitte der Gesellschaft spülte.
Von Andrea Schurian
Nein, man kann sie nicht mehr hören, die Worthülsenproduzenten und Relativierungsschwafler, die Wirtschaft und Gesundheit gegeneinander aufrechnen, virologisches Fachwissen beiseite wischen, Jung versus Alt in Stellung bringen und Impfungen und Lockdowns querdenken. Es ist eine coronärrische Mischkulanz aus linken und rechten Extremdeppen, Fundamentalspinnern, Impfgegnern, esoterischen Leuchten, Corona-Lügen-Detektoren, Wunderheilern, Antisemiten, Rassisten, Twitterblasisten, sozialmedialen Stammtischlern und Gesichtsbuchhaltern (m/w/*), die vom Recht auf Ansteckung plappern, Covid-19 mit einer Grippe vergleichen, Quarantänemaßnahmen mit Auschwitz und Bill Gates mit Hitler. Ihre Glaubensgrundlage ist die Online-Bewegung QAnon, kurz Q, die das soziale Dorf verlässlich mit rechtsextremem, antisemitischem, rassistischem, frauenfeindlichem Unrat zumüllt
Neben „Freiheit statt Angst“ tauchten auf den Corona-Spaziergängen „Stoppt den Kinderhandel“-Schilder auf, weil Hardcore-Verschwörungsmythiker ernsthaft glauben, dass eine pädophile Elite rund um die Ehepaare Clinton, Obama und Gates Kinder tötet, um mit einer aus Jungblut gewonnenen Forever-young-Droge gemeinsam mit George Soros, den Rockefellers und Rothschilds die Weltherrschaft an sich zu reißen. Bis es so weit ist, soll das in der Melinda-&-Bill-Gates-Hexenküche zusammengebraute Sars-CoV-2-Virus die Weltbevölkerung radikal dezimieren. Dem menschlichen Restbestand wird dann, zugleich mit der zwangsverordneten Spritze (natürlich ebenfalls aus dem Mordhaus Gates), ein Mikrochip injiziert. So weit, so irre.
Blaue Krisengewinnler
Es sind nicht nur ungebildete Dumpfbacken, die den Verschwörungsschwaflern auf den Leim gehen oder praktischerweise gleich selbst eine Theorie in die Onlinewelt setzen. Piers Corbyn, Bruder des ehemaligen Labourchefs Jeremy C., der an den antisemitischen Ausfransungen seiner Partei bekanntlich wenig Beanstandenswertes fand, ortet das 5G-Mobilfunknetz als Auslöser des Coronavirus. Weshalb der Astrophysiker Anschläge auf 5G-Masten ausdrücklich befürwortet. In Österreich zwitscherten vor allem die blauen Vögel das Lied vom Coronawahnsinn. Verkleidet als aufrechter Demokrat, der um seine Freiheitsrechte kämpft, marschierte auch – umringt von schmissigen Kameraden mit braunen Westen – Gottfried Küssel auf, als Herbert Kickl in einer 40-minütigen Prater-Suada über ein „intaktes Immunsystem“ dozierte und vereinzelt „Sieg Heil“-Rufe aus dem alubehüteten Publikum tröpfelten. Dass just die Partei der Braven und Anständigen, die für Recht und Ordnung steht, konzentrierte Anhaltungszentren goutiert, über „linke Berufsdemonstranten“ herzieht und davon überzeugt ist, dass das Recht der Politik zu folgen hat, sich nun als Verteidigerin der Freiheitsrechte aufspielt, ist eine der treppenwitzigsten Mutationen von Covid-19.
Wirtschaft vor Gesundheit?
Zwischen 25. Februar 2020 und Anfang Juni 2021 erlagen in Österreich 10.600 und weltweit mehr als 3,4 Millionen Menschen einer Corona-Infektion. Selbst nach Abzug allfälliger Schwankungsbreiten ist die Zahl der Coronatoten verdammt hoch. In Italien, wo allein in der Gegend um Bergamo im März vergangenen Jahres 568 Prozent Menschen mehr als im Jahr davor starben, klagen Angehörige das Versagen der Behörden an: Lebensrettende Maßnahmen seien aus rein wirtschaftlichen Überlegungen zu spät getroffen worden, die Industriellenvereinigung Confindustria habe regional und national massiv interveniert. Wirtschaft vor Gesundheit: Das hätten sich viele auch in und für Österreich gewünscht. Zwar brächte ein Kollaps des Gesundheitssystems die Wirtschaft genauso zum Erliegen wie ein Lockdown. Aber, hey, ist nicht sowieso jede Grippewelle ärger und das Leben prinzipiell lebensgefährlich?
Unbezahlbarer Schutz
Als dreijähriges Mädchen erkrankte meine Schwester an Kinderlähmung und verbrachte viele Wochen in strengster Isolation im Krankenhaus. Ich hatte das Glück der späteren Geburt: Als erstes westliches Land führte Österreich 1961 die Schluckimpfung als Massenimpfaktion ein. Im Jahr 2002 erklärte die WHO Europa und im August 2020 auch den afrikanischen Kontinent für poliofrei. Dank engmaschiger Impfprogramme soll die Krankheit, die offiziell immer noch in Afghanistan, Pakistan und Syrien aufflammt, weltweit ausgerottet werden – so wie es mit dem Pockenvirus Variola gelang, das allein im 20. Jahrhundert 300 Millionen Menschen dahinraffte.
Ab 1967 startete die WHO globale Impfprogramme, in zehn Jahren wurden mehr als eine halbe Milliarde Pockenimpfungen durchgeführt, seit Mai 1980 gelten Pocken als ausgerottet. Im Jahr darauf endete die Impfpflicht in Österreich. Im besonders impfkritischen Frankreich hingegen müssen Kinder seit 1. Jänner 2018 gegen Masern, Polio, Diphterie, Keuchhusten, Röteln, Mumps, Hepatitis B, Tetanus, Haemophilus Influenzae Typ B, Pneumokokken sowie Meningokokken geimpft sein, ehe sie einen Kindergarten besuchen dürfen. Eine Klage von Impfgegnern scheiterte: Ein zufriedenstellender Schutz der Bevölkerung sei höherwertig einzustufen als das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Achtung des Privatlebens.
Und jetzt also die Coronaimpfung. Eine Zeitlang mutierten desaströse Impfpläne schneller als das Virus selbst. Dort, wo zügig durchgeimpft wurde – in Israel beispielsweise, in den USA oder Italien –, sind hohe Militärs maßgeblich ins Prozedere eingebunden, Logistik und Krisenmanagement gehören schließlich zu deren Kernkompetenzen. Im kleinen Österreich hingegen wurschtel(te)n neun Landesregierungen anfangs mehr schlecht als recht und eher intransparent dahin. Impfvordrängler entpuppten sich als gar keine so rare Spezies in Österreich, Bürgermeister, (Provinz-)Politiker und, ja, auch IKG-Funktionäre entwickelten beachtliche Fertigkeiten im Vorschwindeln.
Neue Normalität?
Die blaue Gesundheitssprecherin Dagmar Belakowitsch wiederum warnte vor „sogenannten Zwangsimpfungen“, wobei diese Wortkombination einen Spitzenplatz in der Kategorie „stichhaltiges Gerücht“ verdient. Wissenschaftsfeindlichkeit hat in Österreich Tradition. Binsenweise werden im Zwischenreich von Esoterik und Halbwissen(schaft) mögliche Folgen des Vakzins an die Wand gemalt, jene von Sars-CoV-2-Infektionen hingegen eisern kleingeredet oder ganz totgeschwiegen. Wissenschaftler wissen noch nicht, wie lange jemand, der sich mit dem Coronavirus infiziert hat, gegen die Krankheit immun ist. Wer Pocken oder Kinderlähmung überstanden hat, war es jedenfalls ein Leben lang. Pockenviren veränderten sich über die Jahrhunderte kaum, Sars-CoV-2 schon. Eine Impfung kann ein solches, sich veränderndes Virus nach heutigem Wissensstand zwar nicht ausrotten, aber eine permanente Viruszirkulation von Re-Infektionen verhindern – und so wieder ein Leben ohne Lockdown ermöglichen. Klingt nach neuer Normalität, idealerweise nicht nur diesen einen schönen Sommer lang.