Jaron Engelmayer, von der Israelitischen Kultusgemeinde zum neuen Oberrabbiner Wiens bestellt, war Rabbiner bei der Synagogengemeinde Köln, bevor er 2015 nach Israel zog. Er hofft, dass die Pandemie hilft, zu verstehen, dass das Leben „nicht nur aus Materiellem besteht“.
Von Maria Sterkl
NU: Sie haben lange in Deutschland gelebt. Den Wienern wird eine Art „Jo, eh“-Mentalität zugeschrieben. Regeln gibt es, aber wer sie strikt einfordert, macht sich schnell unbeliebt. Sagt Ihnen das als orthodoxer Rabbiner zu?
Engelmayer: Wie die Leute ihr Leben leben, ist ihre Entscheidung, und das ist gut so. Ich kann als Rabbiner anleiten, Antworten geben, erklären. Wenn Leute zu mir kommen und sagen, sie wollen koscher leben und haben Fragen dazu, bin ich die Ansprechperson, um das zu erklären. Soweit zum Privatleben. Wenn es um die Gemeinde geht, um Abläufe in der Synagoge, trage ich die Verantwortung. Ich möchte dafür sorgen, dass sich noch mehr Leute an die Synagoge gebunden fühlen und dass die, die schon in die Synagoge kommen, auch weiterhin gern kommen. Natürlich gibt es Differenzen, der eine möchte einfach mit den anderen in Ruhe reden, und der andere möchte in Ruhe beten. Da schließt das eine das andere ein bisschen aus. Ich bin auch dafür zuständig, dass alle zurechtkommen.
Die Wiener jüdische Gemeinde ist sehr heterogen. Wenn Sie da eine Linie vorgeben, gibt es vermutlich immer jemanden, der nicht begeistert ist. Ein Problem für Sie?
Das stimmt, das ist nicht leicht. Ich mag das eigentlich nicht, ich bin immer gern auf der Seite von allen. Grundsätzlich mag ich Heterogenität, gleichzeitig gibt es natürlich auch Grenzen, und als orthodoxer Rabbiner muss ich sie auch manchmal aufzeigen.
Ihr Großvater war ja schon Rabbiner. Überspringt es immer eine Generation?
Ja, in unserer Familie hat das was. Mein Vater war Rechtsanwalt, mein Sohn will auch Anwalt werden. Und der Großvater meines Großvaters war auch Rabbiner.
In der Corona-Krise sind viele von Zukunftsangst geplagt. Solche Ängste bringen manche zurück zum Glauben. Provokant gefragt: Spielt die Krise den Glaubensgemeinschaften womöglich in die Hände?
Nein. Gott hat viele Arten von Weckrufen, und es ist klar, dass das ein Weckruf ist. Vielleicht hilft uns dieser Weckruf, zu verstehen, dass unser Leben nicht nur aus Materiellem besteht, und wenn es anders nicht möglich ist, ist das vielleicht jetzt der Ansatz, um wachgerüttelt zu werden. Aber es ist immer besser, nicht aus der Not heraus den Weg zu Gott zu finden. Ich sage nicht: Wunderbar, das hat Gott gut gemacht, jetzt kommen die Leute wieder in die Synagoge.
Sie sehen also Corona und Wirtschaftskrise als Alarmzeichen, dass Materielles nicht alles ist?
Sie haben es definitiv geschafft, die Weltordnung ordentlich durcheinanderzurütteln. Manche liebgewonnene Routine von früher darf durchaus hinterfragt werden. Muss etwa jeder Urlaub, sogar Kurzurlaube und Wochenenden, auch mit Fliegen verbunden sein? Kann der Urlaub in der Nähe nicht ebenso schön und erholsam sein? Ist es nicht wichtiger, Qualitätszeit mit der Familie zu verbringen anstatt einen Luxusurlaub in der Ferne? Wenn aber jemand gerade seinen Job verloren hat, kann man nicht sagen: Denk nicht so materiell.
Derzeit gehen jeden Tag in Israel Menschen gegen soziale Ungerechtigkeit auf die Straße. Ist die Frage Arm und Reich ein Thema für Sie als Rabbiner?
Ich bin kein Meinungsmacher, keiner, der in den Medien zitiert wird. In Wien wird das ein wenig anders sein. Im Amt eines Oberrabbiners werden Aussagen anders gewertet. Darauf werde ich mich einstellen müssen.
Ein Thema, auf das man Sie in Wien oft ansprechen wird, ist der wachsende Antisemitismus.
Ja. Ich bin grundsätzlich dagegen.
Sie werden dann vielleicht auch gefragt werden, was Sie als das größere Problem empfinden: den muslimischen oder den rechtsextremen Antisemitismus.
Das ist eine spannende Frage, zu der ich mich aber nicht äußere, bevor ich es nicht vor Ort kennengelernt habe. Da haben sich vor Ort viele den Kopf zerbrochen, und ich werde von hier aus nicht kompetente Aussagen treffen können. Die Frage ist, wie man Antisemitismus bekämpfen kann. In Deutschland hatten wir viele interreligiöse Projekte, damit Juden und Nichtjuden einander kennenlernen.
Der Kampf gegen Antisemitismus ist ja nicht primär eine Aufgabe der Juden. Tut die Politik genug?
Die angekündigten Maßnahmen gegen Antisemitismus in Österreich sind höchst lobenswert, in einigen Monaten werde ich das aber aus der Nähe wohl besser beurteilen können.
Von rechter Seite kommen oft Kampagnen gegen religiöse Bekleidungsvorschriften, gegen das Schächten, die Beschneidung. Das richtet sich vordergründig gegen Muslime, betrifft aber auch Juden. Werden Sie sich in solchen Fragen mit islamischen Gemeinden in Wien abstimmen?
In Köln haben wir Kontakt gesucht und uns getroffen mit dem Chef des größten Moscheeverbands in Deutschland, Ditib. Es ist ein zweischneidiges Schwert. Einerseits gibt es eine Chance, gemeinsam für etwas einzustehen. Andererseits gibt es auch Unterschiede, die sich nicht wegreden lassen. Und manchmal werden solche Kontakte auch ausgenutzt, und es geht nur um das schöne Bild in der Zeitung. Wie das in Österreich ist, kann ich aber (noch) nicht beurteilen.
Hat die frühere Regierungsbeteiligung der FPÖ Sie zweimal überlegen lassen, ob Sie nach Wien gehen oder nicht?
Ich war zum letzten Neujahrsfest in Wien als Gastredner eingeladen, genau am Wahltag. Am Abend waren die Ergebnisse bekannt, und der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde hat auch darüber gesprochen, dass es ein klares Zeichen ist, dass sich die neue Regierung anders zusammensetzen wird – ein gutes Zeichen für das demokratische Österreich. Für meine Familie ist es gut, wir gehen mit weniger Bedenken nach Österreich, was die politische Landschaft und den Antisemitismus betrifft.
Das Interview erscheint mit freundlicher Genehmigung der Tageszeitung „Der Standard“.