Aus Schwarz und Schimmer

Das bekannteste Bild Gertrud Kolmars aus dem Jahr 1928 ist auch eines der wenigen Bilder, die von der Lyrikerin überhaupt noch existieren. FOTO: AKG-IMAGES/PICTUREDESK.COM

Zum 80. Todestag der deutsch-jüdischen Lyrikerin Gertrud Kolmar ist eine exzellente Biografie erschienen.

VON MICHAEL PEKLER

 „So trag ich dich, so trägst du mich,
Da dunkelblaue Weiher sind;
Du spiegelst mich, ich spiegle dich,
Bis mählich Bild und Glanz verrinnt“

Jede Biografie erzählt eine eigene, aber auch eine andere Geschichte: eine Lebensgeschichte. Zwar sind die Archive, in denen oft jahrelang gestöbert wird und die Aufzeichnungen, die gefunden werden, oft dieselben. Doch weil Leben und Werk meist als Einheit gedacht und in der Folge beschrieben werden, können über denselben Menschen höchst unterschiedliche Bilder entstehen.

„Die schmerzlichen Erfahrungen des eigenen Daseins lassen in ihr ein tiefes Verstehen und Mitleiden reifen, von denen ihr Spätwerk […] durchdrungen ist, ein lyrisches Bekenntnis zu den Schutzbedürftigen der Schöpfung, zu Frau, Kind, Tier und Liebenden.“ Dieser Eintrag stammt aus der Deutschen Biografie, einem Online-Nachschlagewerk der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Wie so oft werden auch hier, prägnant zusammengefasst, Leben („schmerzliche Erfahrungen“) und Werk („lyrisches Bekenntnis zu den Schutzbedürftigen“) in Verbindung gesetzt. An anderer Stelle heißt es: „Die hohe ästhetische Sensibilität verbarg K. hinter einem äußerlich herben, verschlossenen, zur Askese neigenden Wesen.“ K. steht für Gertrud Kolmar.

Über das Leben von Gertrud Kolmar (1894–1943), geboren als Gertrud Käthe Chodziesner, ist nicht alles bekannt, aber man weiß sehr viel über die jüdische Schriftstellerin, die heute zu den bekanntesten deutschen Lyrikerinnen zählt. Ihre ersten Gedichte schrieb Kolmar ab Mitte der 1910er Jahre, 1917 erschien ihr erster Gedichtband unter dem Pseudonym Gertrud Kolmar, mit dem sie den deutschen Namen der Stadt Chodziesen in der preußischen Provinz Posen übernahm, aus der die Familie stammte. Veröffentlicht wohlgemerkt als Geschenk von ihrem Vater Ludwig Chodziesner, einem erfolgreichen jüdischen, kaisertreuen Anwalt.

In den 1920er Jahren erschienen einzelne Gedichte, 1930/31 entstand der Prosatext Die jüdische Mutter, der sich im Nachlass fand und erst 1965 veröffentlicht wurde. 1934 erschien der zweite Gedichtband Preußische Wappen, vier Jahre später der letzte Band Die Frau und die Tiere. 1943 wurde Kolmar im Verlauf der „Fabrikaktion“ – sie arbeitete in einem Rüstungsbetrieb – deportiert und in Auschwitz ermordet.

Schlägt man also eine neue Biografie über Kolmar auf, stellt sich weniger die Frage nach bislang unbekannten Details als nach einer neuen Perspektive: Warum war Kolmar jene „zur Askese neigende“ junge Frau, die sich im Berlin der frühen 1940er Jahre gegen eine Flucht entschied und sich aufopfernd um den Vater kümmerte? Wie entstand ihre letzte erhalten gebliebene Erzählung Susanna im Dunkel der Nacht, gezeichnet von Schlafmangel und Erschöpfung, wie aus einem Brief an ihre zu dieser Zeit bereits in die Schweiz emigrierte jüngste Schwester Hilde hervorgeht?

In ihrer Biografie Die Feuerkette der Epoche. Über Gertrud Kolmar beschreitet die Literaturwissenschaftlerin Friederike Heimann einen spannenden Weg, Leben und Werk Kolmars in Verbindung zu setzen: Indem sie das Leben Kolmars nicht chronologisch erzählt, sondern sprunghaft einzelne Ereignisse schlaglichtartig beleuchtet, öffnet die Biografie immer wieder neue zeithistorische und gesellschaftspolitische Fenster. Und scheut dabei auch vor eigenen Bildern nicht zurück, die erst beim Schreiben entstehen.

„Für einen Augenblick versuchte ich, mir Gertrud Kolmar als junge Frau vorzustellen“, heißt es etwa zu Beginn, als Heimann im Mai 2014 Kolmars australischen Neffen in Berlin empfängt und mit ihm die Ahornallee besucht; jene Straße, in der Kolmar ihre Kindheit verbrachte. „Wie sie im langen Rock und eher dunkler Jacke das baumbestandene Trottoir eilig und ein wenig scheu entlanggeht, das schwarze Haar lose im Nacken zusammengefasst, eine Tasche in den Händen oder Bücher unter dem Arm.“ Heute erinnert an diesem Ort nur noch eine Gedenktafel an Gertrud Kolmar, das Haus, in dem sie mehr als zwanzig Jahre lang wohnte, existiert nicht mehr. Es sind flüchtige und doch prägnante Beschreibungen wie diese („doch schon entgleitet sie mir wieder und ich sehe nur noch einen flüchtigen Schatten, der sich in der Ferne unter den Ahornbäumen verliert“), mit denen Heimann wiederholt ein Bild Kolmars zeichnet, das sie auf sehr besondere Weise nahbar macht, sie aus der Vergangenheit holt und in der Gegenwart lebendig werden lässt.

Als wichtiges Material dienen Heimann dabei die seit 2014 vollständig editierten Briefe, die Kolmar von September 1938 bis zu ihrer Deportation im März 1943 schrieb. Es sind vorwiegend Briefe an Hilde Wenzel, aber auch die Erinnerungen der Schwester an die in Berlin Gebliebene; oder Kolmars Briefe an ihren Cousin Walter Benjamin, die Heimann in Verbindung setzt mit dessen Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. So etwa in einer längeren Passage über die gemeinsame, aus Pommern stammende Großmutter Hedwig Schoenflies, von der eine um 1900 entstandene Aufnahme mit den Enkelkindern existiert: Gertrud im weißen Kleidchen und Walter im Matrosenanzug und mit Schmetterlingsnetz.

Eindrücklich beschreibt Heimann anhand dieser alten, auf dem Foto von den Enkelkindern umrahmten Frau die Wanderungsbewegung des deutschen Judentums von Ost nach West, den Aufstieg in die bürgerliche Gesellschaft Berlins und den Prozess der Akkulturation. Die zunehmende Identifizierung mit allem Deutschen, das mehr und mehr in den Alltag und damit ins Zentrum des Lebens rückte, sollte für Gertrud Kolmar von wesentlicher Bedeutung sein. „Jüdische Traditionen und Rituale gerieten allmählich in den Hintergrund und selbst wenn Feste wie das jüdische Neujahr oder Yom Kippur noch eingehalten wurden, so feierte man doch ebenso begeistert auch Ostern und das Weihnachtsfest, wozu die große Familie sich regelmäßig in den weitläufigen, reich geschmückten Zimmern der Großmutter zusammenfand.“

Entlang autobiografischer Dokumente und Notizen, aber auch einzelner Fotografien fächert Heimann eine Familiengeschichte auf, die mit dem Werk Kolmars maßgeblich verbunden ist: eine Geschichte über das Verhältnis von jüdischer Identität und deutschem Nationalstolz, über Kaisertreue und Assimilierung, über zunehmenden Antisemitismus in der Weimarer Republik, über eine junge jüdische Frau und ihre unglückliche Liebe zu einem deutschen Offizier, die zu einer – wie vielen von Kolmars Gedichten zu entnehmen ist – traumatisierenden Abtreibung führte. Mit ihrer Arbeit als Erzieherin, mit der sie als älteste Tochter zum Familieneinkommen beitrug und die ebenfalls starken Widerhall in ihrer Lyrik fand, konnte sich Kolmar wohl auch deshalb nie recht anfreunden. „Und dennoch wird sie in ihrer späteren Dichtung das Dasein als Erzieherin als grau und karg beschreiben, begleitet von schmerzlichem Verlust“, wie Heimann anmerkt. Eine „Feuerkette der Katastrophen“ (Hannah Arendt), auf die sich auch der Titel von Heimanns Biografie bezieht.

Das bekannteste Bild Gertrud Kolmars ist eine Porträtfotografie aus dem Jahr 1928, das bereits die von Regina Nörtemann herausgegebenen Gedichtbände schmückte. Es ist eines der wenigen Bilder, die von Kolmar überhaupt noch existieren. Für Friederike Heimann ist diese in der Tat faszinierende Aufnahme gar Anlass für einen erhellenden Exkurs über Ausdruck und Schönheit. „Es wirkt, als liege der zarte Flor einer umfassenden Trauer über diesen Zügen, die zugleich eine ungewöhnliche Präsenz zeigen“, schreibt Heimann. „Als sehe sie mich an und sehe sie mich doch nicht an.“ Die „uneinholbare Abwesenheit“ einer Frau, eine Unerreichbarkeit, die einen „immer wieder aufs Neue ergreift und in den Bann zieht.“

Friederike Heimann
In der Feuerkette der Epoche
Über Gertrud Kolmar
Jüdischer Verlag/Suhrkamp
462 S., EUR 28,80,–

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