Der Politologe, Schriftsteller und Mitarbeiter des israelischen Ministerpräsidenten, Arye Shalicar, wurde nach dem Überfall der Hamas als Reservist eingezogen. Nun ist er wieder als Pressesprecher der Israel Defence Force (IDF) für den deutschsprachigen Raum tätig.
Von René Wachtel
NU: Wie haben Sie am 7. Oktober vom Massaker erfahren?
Arye Shalicar: Es gab schon in der Früh Raketenalarm im Raum Tel Aviv, wo ich mit meiner Familie wohne. Das sind wir gewöhnt. Aber diesmal war es anders, der Sirenenton war länger. Wir schalteten unsere Handys und den Fernseher ein und wir sahen, dass ein Pick-up mit Hamas-Terroristen durch Sderot, die Stadt an der Grenze zu Gaza, fährt und auf alles schießt. Dann kamen immer mehr Bilder, auch von anderen Städten, Dörfern und Kibbuzim. Im Internet kursierten viele verstörende Videos, die Terroristen hatten Bodycams, filmten alles und stellten es ins Internet. Aber das Ausmaß der Katastrophe war mir immer noch nicht richtig bewusst. Zirka um 14 Uhr kam der Anruf der Armee. „Arye wir sind im Krieg, wir brauchen dich!“ Ich nahm meine Uniform, verabschiedete mich von meinen Liebsten und fuhr ins Hauptquartier der Israel Defence Force (IDF) nach Tel Aviv, um meine Arbeit als IDF-Pressesprecher aufzunehmen. Mein gesamtes Team war da. Aber das richtige Ausmaß dieser Tragödie wurde uns erst später klar, als die Zahl der Opfer, Toten, Vermissten und Verschleppten bekannt wurde.
Wie ist es für Ihre Familie, für die Kinder? Wie gehen sie mit der Situation um?
Nach dem Anschlag waren alle Schulen in Israel geschlossen, die Kinder blieben bei meiner Frau zu Hause. Natürlich war die Angst groß, aber meine Frau hat versucht, sie zu beruhigen. Auch das Wirtschaftsleben in Israel wurde hinuntergefahren, die Banken waren eingeschränkt offen, viele Geschäfte hatten zu. Es wurden ja 360.000 Reservisten eingezogen. Es gibt auch viele Freiwillige, die den vertriebenen Israelis aus Südisrael helfen. An die 500.000 Menschen sind aus Südisrael geflüchtet und wurden in Hotels oder privaten Unterkünften untergebracht. Es sind so viele, die diesen traumatisierten Menschen helfen. Auch im Norden wurden Städte evakuiert, auch da helfen viele Zivilisten. Auch da, wo wir wohnen, haben sich viele Familien zusammengetan und kümmern sich um die Kinder der Nachbarn. Es herrscht eine große Solidarität in Israel. Meine beiden Kinder sehen mich jetzt in Uniform und sind natürlich immer besorgt, wenn ich außer Haus gehe. Als IDF-Sprecher fahre ich oft nach Südisrael, wo die Gefahr allgegenwärtig ist. Ich komme zwar täglich nach Hause, aber immer spätabends oder in der Nacht. Meine neunjährige Tochter wartet immer, bis ich komme, egal um welche Zeit, letztens sogar bis zwei Uhr morgens, um mich zu umarmen. Das ist schön zu erleben.
Haben Sie oder Ihre Familie Opfer bei dem Massaker zu beklagen?
Nein, direkt in unserer Verwandtschaft und im engen Freundeskreis nicht. Aber jeder in Israel kennt jemanden, der ermordet, vermisst oder als Geisel in der Hand der Hamas ist, vor allem unter den drei- bis viertausend Besuchern des Musikfestivals, viele aus dem Raum Tel Aviv, die auf grausamste Weise umgebracht worden sind. Ich habe Ramle besucht, dort hat das Rabbinat eine Station eingerichtet, wo Leichen hingebracht wurden, um sie zu identifizieren. In Kühlcontainern häuften sich Leichensäcke mit noch nicht identifizierten Menschen. Bis nicht alle identifiziert sind, ist die Zahl der Vermissten so hoch. Die Leichen wurden verbrannt, geschändet, es ist unbeschreiblich. Als ich dort war, wurde gerade die verkohlte Leiche einer jungen Frau identifiziert. Man entdeckte einen Klumpen am Bauch – es stellte sich heraus, dass diese junge Frau ihr Baby beschützen wollte und beide verbrannt wurden. Ob bei lebendigem Leib oder nicht, kann man nicht sagen. Das ist alles fürchterlich. Es gibt Leichen von Babys ohne Köpfe, fürchterlich geschändete Leichen. Das alles wurde auch gefilmt. Ich habe solche Videos gesehen, von den Bodycams der Terroristen. Das kann man nicht veröffentlichen. Das ist zu grausam.
Wie geht es Ihrem Schwiegervater, der ja erst vor einem Jahr aus Cherson in der Ukraine vor dem Krieg geflüchtet ist?
Ja, mein Schwiegervater ist von einem Kriegsschauplatz in einen anderen geflüchtet. Aber er nimmt es offensichtlich gelassener als wir. Er versteht kein Wort Hebräisch und bekommt die israelischen Nachrichten nicht mit, die 24 Stunden täglich berichten. Natürlich hört er Nachrichten auf Russisch oder liest Nachrichten im Internet auf Russisch. Vielleicht ist er auch abgehärteter. Er hat lange in der Armee der Sowjetunion gedient, er war beim Ungarn-Aufstand dabei und auch bei der Niederschlagung des Prager Frühlings im Jahr 1968.
Sie haben auch die Orte besucht, die überfallen wurden. Können Sie beschreiben, was Sie dort gesehen haben?
Es war ein Bild der Apokalypse – alles verwüstet und zerstört. Als ich dort war, wurden gerade viele Leichen geborgen. Leichen und Leichenteile lagen in den Straßen. Es war alles verwüstet. Kindergärten, Schulen, Arztpraxen, Büchereien – einfach alles böswillig zerstört. Und überall Leichen. Die Hamas-Terroristen haben vor nichts Halt gemacht, sie wollten wirklich nur ein Blutbad anrichten.
Wie lautet Ihre persönliche Einschätzung über die Folgen des Terroranschlags und des Krieges gegen die Hamas?
Dieses Massaker hat das Land bereits verändert und wird es auch dauerhaft verändern. Auch im Jom-Kippur-Krieg ging es um die Existenz des Staates Israel. Nun, nach fünfzig Jahren, erlebt eine neue Generation wieder dieses Gefühl, dass Israel in einer feindlichen Umwelt existiert und die Feinde nur ein Ziel haben: den Staat Israel zu zerstören und alle Juden zu ermorden. Das ist eine tiefe Zäsur, vor allem auch für junge Israelis.