In der US-Außenpolitik finden sich jüdische Vertreter in allen politischen Lagern. Doch bei allen Unterschieden gibt es ein verbindendes Element: Als Internationalisten befürworten sie alle eine aktive Rolle der USA in der Welt.
Von Eric Frey
Jüdische Denker und Praktiker spielen in der Außenpolitik der USA seit Jahrzehnten eine führende Rolle. Dazu gehören bedeutende Politikwissenschafter wie Hans Morgenthau, der Vater des modernen Realismus, Leo Strauss oder Stanley Hoffmann genauso wie Henry Kissinger, der erste jüdische US-Außenminister, und Anthony Blinken, der vorerst letzte. Auch Richard Holbrooke war Jude, ebenso wie Dennis Ross, beide Schlüsselfiguren der Außenpolitik unter Präsident Bill Clinton. Und selbst Clintons Außenministerin Madeleine Albright entdeckte während ihrer Amtszeit ihre jüdischen Wurzeln.
Im Kalten Krieg gab es zahlreiche deklarierte Antikommunisten, darunter so extreme Falken wie den Atomphysiker Edward Teller, aber vor allem seit den 1960er Jahren auch harte Kritiker des Vietnamkriegs und anderer Aspekte der Außenpolitik. Das gleiche breite Spektrum findet sich ab den 1990er Jahren in den heftigen Debatten über die Kriege im Irak oder die Politik gegenüber dem Iran, stets im Konnex mit den für viele Juden so wichtigen Beziehungen zum Staat Israel.
Aber bei all diesen Unterschieden gab und gibt es stets ein verbindendes Element, das für praktisch alle jüdischen Stimmen in der Außenpolitik Geltung hat: Sie sind Internationalisten, die eine aktive Rolle der USA in der Welt befürworten. Das gilt für die vielen jüdischen Neokonservativen wie Paul Wolfowitz, Elliott Abrams und Richard Pipes, die mit dem Krieg gegen Saddam Hussein eine Demokratisierung des Nahen Ostens erzwingen wollten, ebenso wie für linksextreme Kritiker wie den Linguisten Noam Chomsky, der in der Außenpolitik der USA nur Verbrechen erkennen kann, aber von der Supermacht zumindest implizit eine moralisch geprägte globale Rolle fordert. Purer Nationalismus und Isolationismus sind amerikanischen Juden praktisch fremd.
Grenzüberschreitungen
Dafür gibt es mehrere Gründe. Wo immer Juden in der Welt leben, und mögen sie noch so assimiliert sein, bringen sie grenzüberschreitende Familiengeschichten, Verwandtschaften und Interessen mit. Juden sind nie mit der Scholle so eng verbunden, dass sie die Außenwelt nicht interessiert. Dazu kommt die tragische Erfahrung der Schoah. Während der amerikanische Isolationismus der 1930er Jahre Adolf Hitler freie Hand gelassen hatte, war es der Internationalismus der Roosevelt-Regierung, der den Sieg über das NS-Regime erst möglich gemacht hat. Der Genozid an Europas Juden wird von sehr vielen Amerikanern, und ganz besonders von US-Juden, als Auftrag empfunden, gegen Unrecht und Verfolgung in aller Welt zu handeln. Woodrow Wilsons Idealismus, der die US-Außenpolitik bei allen realpolitischen Abweichungen bis heute prägt, ist unter amerikanischen Juden besonders stark verbreitet. Dazu kommt vor allem seit dem Sechstagekrieg die Solidarität mit Israel, die ebenso parteienübergreifend gelebt wird. Und schließlich gibt es eine jüdische universelle Ethik, die Tikkun Olam, die Heilung der Welt, als zentrale Aufgabe beinhaltet.
Doch diese jüdische Schule der US-Außenpolitik durchlebt gerade eine ihrer größten Krisen, und dies unter einem Präsidenten, der sich mit vielen jüdischen Beratern umgeben hat; und einem Außenminister, dessen Biografie von der Schoah geprägt ist. Der Abzug der USA aus Afghanistan, entschieden und umgesetzt von Joe Biden und Anthony Blinken, war mehr als ein logistisches Fiasko, das der Regierung viel Kritik und eine schwindende Popularität eingebracht hat.
Intervention in Afghanistan
Die Invasion und zwanzig Jahre dauernde Intervention in Afghanistan war der letzte große Versuch des Nation-Building, mit dem die USA beweisen wollten, dass sie auch in Ländern mit einem ganz anderen kulturellen Hintergrund die westlichen Werte von Demokratie, Diversität und Menschenrechten durchsetzen könnten. Das Scheitern dort ist ein Zeichen, dass diese von so vielen jüdischen Stimmen geforderte, weltverbessernde Mission sich immer öfter als Illusion erweist.
Was im und nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen ist, nämlich teuflische Diktaturen zu besiegen und auf deren früherem Herrschaftsgebiet liberale Demokratien zu schaffen, hat sich nicht wiederholen lassen. Wo immer die USA seither militärische Intervention und Nation-Building versucht haben, ist es missglückt. Das gilt auch für das ehemalige Jugoslawien, wo zwar die Kriege beendet wurden, aber in Bosnien-Herzegowina und auch im Kosovo nicht oder kaum funktionale Staaten entstanden sind. Der Irak ist beinahe ein „failed state“, und Libyen, wo auf die Intervention keine Besatzung folgte, ist eindeutig in diesem Zustand. Diese Fälle stellen keine einzelnen Missgeschicke dar, sondern ein grundlegendes Problem: Amerika, so lautet die bittere Erkenntnis, kann trotz all seiner militärischen Macht Massaker und Völkermord nicht stoppen, Unrecht nicht beenden, die Welt nicht heilen.
Für amerikanische Nationalisten wie Donald Trump liegt der logische Schluss schon lange nahe: Die USA sollten all das gar nicht versuchen, sondern sich international auf die Durchsetzung der enggefassten nationalen Interessen beschränken. Aber all jene, die für ihre Nation eine weltpolitische Verantwortung beanspruchen, stehen vor einem Dilemma: Die eigenen Werte und Ziele sind mit den verfügbaren Mitteln nicht durchzusetzen.
Das gilt auch für Europa. Sicher, man kann immer Wirtschaftssanktionen verhängen, sei es gegen den Iran oder Belarus. Aber diese wirken nur in den wenigsten Fällen. Mit einem kurzen Militärschlag können gefährliche Diktatoren und Regimes zwar in manchen Fällen gestürzt werden. Aber was geschieht danach? Irak und Afghanistan haben beide gezeigt, dass die wahren Probleme erst nach einer Militärintervention beginnen: blutige Verstrickungen in innere Konflikte, schwindende Unterstützung für das Engagement im eigenen Land, und gescheitertes Nation-Building.
Verbündete gegen Aggressoren
Selbst bei der Verteidigung von Verbündeten gegen Aggressoren könnte die Supermacht USA an ihre Grenzen stoßen. Was würde geschehen, wenn China Taiwan angreift, um die langersehnte Wiedervereinigung militärisch zu erzwingen? Die meisten Szenarien, so der jüdisch-amerikanische Politologe Peter Beinart unlängst, gehen davon aus, dass China eine Konfrontation mit den USA in seinem Hinterhof gewinnen würde.
Anders schaut es für Israel aus, dass keinem übermächtigen Gegner in der Region gegenübersteht. Die Verteidigung des jüdischen Staates im Falle einer existenzbedrohenden Aggression ist vielleicht die einzige US-Mission, auf deren Erfolg sich amerikanische Juden verlassen können. Das ist wichtig, aber doch viel weniger, als ein großer Teil der amerikanischen jüdischen Gemeinde von ihrer mächtigen Heimat erwartet.