Die Verfolgung der ungarischen Juden im Zweiten Weltkrieg hat der Weltliteratur Meisterwerke wie „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertész und „Neun Koffer“ von Béla Zsolt beschert. In diese Reihe stellt sich nun Peter Lantos mit seinen Lebenserinnerungen „Parallel Lines“, die er nach seiner Pensionierung als Professor für Neuropathologie in London verfasste.
Von Axel Reiserer
Noch einmal macht er sich als alter Mann auf die Suche nach seiner Kindheit und die Spuren des zerstörten Lebens seiner Familie. Die Erlebnisse des Kindes und die Nachforschungen des Erwachsenen laufen parallel und geben dem Buch nicht nur den Titel, sondern auch seinen besonderen Charakter.
Als Peter am 22. Oktober 1939 im verschlafenen südungarischen Provinznest Makó zur Welt kommt, wird er in einer der ersten Familien des Ortes geboren. Der Großvater mütterlicherseits hat einen gutgehenden Holzbetrieb aufgebaut, die Großmutter hält die weitverzweigte Familie mit eisernem Regiment zusammen. Seit 1740 siedelten Juden in der Gegend im Grenzgebiet zu Rumänien und Serbien. Nach der deutschen Besetzung Ungarns im März 1944 wird in wahnwitzigem Tempo die Vernichtung der ungarischen Juden betrieben. Als Peters Mutter 1944 seinem Vater einen gelben Stern an den Mantel heften muss, verlangt der Fünfjährige auch einen für sich.
Der Leidensweg der Familie Leipniker (Jahrzehnte später änderte Peter in Ungarn seinen Namen
auf Lantos) führt über die Vertreibung aus dem Familienhaus in ein Ghetto, von dort in ein Deportationslager nach Szeged und schließlich ins KZ Bergen-Belsen. Im Durchgangslager Strasshof stirbt die Großmutter, im KZ erliegt der Vater dem Typhus. Sein wesentlich älterer Bruder Gyuri kommt unmittelbar nach Kriegsende auf dem Rückmarsch von der Front ums Leben.
Mit seiner Mutter kehrt Peter nach Kriegsende nach Ungarn zurück, aber sollten sie Hoffnung gehabt haben, an ihr früheres Leben anschließen zu können, so erfüllt sie sich nicht. „Nichts konnte jemals mehr so sein, wie es einmal war“, schreibt Lantos. Als Sechsjähriger bekommt er vieles noch nicht mit, doch als er aufwächst, muss er erleben, wie Diskriminierung und Antisemitismus fortbestehen.
Die Aufnahme an die medizinische Fakultät wird ihm trotz Bestnoten zunächst verweigert – im sozialistischen Ungarn ist er nun auch noch ein Klassenfeind. Es ist die unermüdliche, unbezwingbare Mutter, die ihn schließlich doch noch auf der Universität unterbringt. Nach ihrem Tod verlässt Peter 1968 seine Heimat. In Großbritannien beginnt er ein neues Leben und wird ein führender Experte für Neuropathologie, der mehrere Standardwerke verfasst hat und heute noch in der Alzheimer-Gesellschaft führend tätig ist.
„Ich habe ein fantastisches Leben gehabt“, sagt Peter Lantos. Selbstmitleid ist ihm fremd. Der Schilderung der täglichen Erniedrigung auf dem Appellplatz von Bergen-Belsen fügt er hinzu, dass ihn seine Mutter dort mit eiserner Strenge zum Lernen deutscher Worte und zum Kopfrechnen anhielt. Er verbindet ein warmherziges, großzügiges Wesen mit dem Kopf eines Wissenschaftlers. Das zeichnet sein Buch aus, das darf man auch im Gespräch mit ihm erleben.