Der Drehbuchautor und Filmemacher Charlie Kaufman hat seinen Debütroman geschrieben. „Ameisig“ erzählt von einem Kritiker, der nicht als alter, weißer Jude betrachtet werden möchte. Wichtiger ist ihm aber noch die Suche nach einem verschollenen Film, dessen einzige Kopie in seiner Erinnerung existiert.
Von Michael Pekler
Würde man eine Besprechung von Charlie Kaufmans Ameisig im selben Stil schreiben wollen wie Charlie Kaufman seinen gleichnamigen Roman – was ohnehin ein nicht nur despektierliches, sondern auch unmögliches Unterfangen darstellte, weil Kaufmans Stil einzigartig ist und deshalb selbst für Apologeten unnachahmbar –, müsste der erste Satz in etwa so aussehen wie jener, den Sie eben zu Ende gelesen haben.
Charlie Kaufman war vor mehr als zwanzig Jahren ein Liebkind der progressiven Filmkritik und erhielt für sein Drehbuch zu Being John Malkovich, inszeniert von Spike Jonze, eine Oscarnominierung. Adaptation, wenig später ebenfalls von Jonze verfilmt, galt als eines der besten Drehbücher seiner Zeit, und dass Kaufman 2005 für Eternal Sunshine of the Spotless Mind, inszeniert von Michel Gondry, schließlich den Oscar überreicht bekam, war gewissenmaßen die logische Schlussfolgerung. Aber auch, dass der von Hollywood als verschwurbeltes Genie vermarktete Kaufman sich vom Countdown, der seine Redezeit unerbittlich herabzählte, hoffnungslos überfordert zeigte. Der deutsche Verleih verpasste dem Film den Titel Vergiss mein nicht!, was aber nicht der Grund war, warum Kaufman für die sogenannte breite Medienöffentlichkeit dennoch wieder in Vergessenheit geriet.
Nicht funktionstüchtig
Das lag vielmehr daran, dass sich das Kino veränderte. Also natürlich nicht das Kino als solches, sondern die Filmindustrie, die bestimmt, welche Art von Kino sich Menschen anschauen sollen. Und zwar nicht nur anschauen, sondern vorher dafür bezahlen. In einem kürzlich erschienenen Interview mit der Onlineausgabe der deutschen Wochenzeitung Die Zeit sagte der zurückgezogen lebende Kaufman, der vom Journalisten „in einem abgeschiedenen Winkel Neuenglands“ aufgespürt worden war, dass die großen Studios solche Bücher wie seine heute nicht mehr verfilmen würden. Was nicht hundertprozentig funktioniere, würde nicht gemacht.
Vielleicht ist auch deshalb der Antiheld – einen Helden oder eine Heldin wird man in allen Büchern Charlie Kaufmans vergeblich suchen – in Ameisig ein Filmhistoriker und Filmkritiker, dessen Texte niemand liest, was er selbst jedoch nicht wahrhaben möchte und nie zugeben würde. B. Rosenberg versichert allen, kein Jude zu sein (Charlie Kaufman ist Jude), und dass sein Name nicht jüdisch sei: „Mir sind schon viele Leute verschiedenster Abstammung begegnet, die nicht wussten, dass Rosenberg kein jüdischer Name ist, nun ja, zumindest nicht ausschließlich. Ich dachte, sie wüssten es. Aber im Verlauf der Unterhaltung lenkten sie das Gespräch auf den Holocaust oder Dreidel oder Gefilte Fisch, aus Nettigkeit, als Handreichung.“ Rosenberg kann Charlie Kaufman nicht leiden (eigentlich niemanden außer bereits verstorbene weiße, europäische Autorenfilmer), dafür ist er stolz auf seine berühmte afroamerikanische Freundin, deren Namen er nicht nennt („Sie kennen sie“), auch wenn er nicht sicher ist, ob er auf diese Beziehung tatsächlich stolz sein darf, weil ihm das als rassistisch ausgelegt werden könnte.
B. Rosenberg, Mittfünfziger aus New York, ist ein vorsichtiger und vor allem korrekter Mann, wenn es um identitätspolitische Fragen geht. Seinen Vornamen kürzt er ab, weil er binäre Genderkonstruktionen ablehnt und sicherstellen möchte, dass sein Geschlecht keine Auswirkung auf die Rezeption seiner Bücher hat, etwa auf sein bahnbrechendes Werk William Greaves und das afroamerikanische Kino der afroamerikanischen Identität oder auf Nun endlich werde ich: Gender und Transformation im amerikanischen Kino. Selbstverständlich beschreibt er andere Personen geschlechtsneutral mit er/sie/xier. Ist Ameisig eine sarkastische Abrechnung mit Wokeness und grassierender Identitätspolitik? Nicht nur, denn so billig gibt es Kaufman nicht: Es ist vor allem eine Geschichte der Angst vor Zurückweisung und Einsamkeit.
Ameisig, vom literarischen Übersetzer Stephan Kleiner großartig ins Deutsche übertragen, ist aus Rosenbergs Perspektive erzählt, der etwas Ungeheuerliches erlebt, als er auf einer Berufsreise durch Florida ein filmhistorisches Monument entdeckt: einen mittels Stop-Motion-Technik animierten Film des völlig unbekannten, afroamerikanischen und über hundert Jahre alten Hausmeisters und Filmemachers Ingo Cutbirth, der Rosenberg durch eine antisemitische Hasstirade in seine kleine, mit unzähligen Kartons vollgestopfte Nachbarwohnung lockt. „Aufgrund der weitverbreiteten Annahme, ich wäre selbst Jude, wird man mein Einschreiten vielleicht für einen Fall von ,Jude schützt Juden‘ halten“, weiß Rosenberg, „was von vielen als Mauschelei betrachtet und missbilligt wird. So betrachtet könnte es der örtlichen jüdischen Community eher schaden als nützen. Ich muss alle potenziellen Konsequenzen sorgfältig überdenken.“
Der Narzisst erkennt seine große Chance: Das die Filmgeschichte definitiv neu definierende Werk dauert drei Monate. Rosenbergs Schicksal: Kaum hat er diesen Meilenstein in einer Privataufführung zu Gesicht bekommen (mit Toiletten-, Ess- und Schlafpausen), geht dieser für immer verloren – und kann einzig in seinem Gedächtnis reanimiert werden.
Grad der Durchlässigkeit
Doch wie rekonstruiert man einen Film in seinem Kopf? Wie träumt man die Welt nach, die dieser Film nicht abbildet, sondern ist? „Gott im Himmel, er handelt von allem. Es ist ein Film über die Zeit, die Zeit als Pfeil wie als Bumerang. Er handelt von Irreführung und Fiktion und dem Mangel an Wahrheit in unserer Gesellschaft.“ Man ahnt, was Charlie Kaufman in den Kopf von B. Rosenberg verpflanzt, dort sprießen und wuchern lässt. Wie nicht ein Universum entsteht, sondern mehrere. Ein Pluriversum der fantastischen Möglichkeiten. Falls nicht jede Möglichkeit per se fantastisch ist. Die innere und die äußere Welt, ohnehin bestimmt vom Grad ihrer Durchlässigkeit – jene in Rosenbergs Kopf und jene fiktive in Ameisig –, werden denn auch gehörig durcheinandergewirbelt. Und das ist – Rosenberg wäre entsetzt ob dieser profanen Beschreibung – urkomisch.
Vor wenigen Monaten hat Kaufman auch seit Jahren wieder einen Film inszeniert. Netflix hatte sich dazu entschieden, I’m Thinking of Ending Things zu produzieren („Sie sehen das ein bisschen als ein billiges Prestigeprojekt“), nachdem Kaufman jahrelang keinen Kinofilm mehr drehen durfte. „Ich mag Roadtrips, weil sie einem zeigen, dass die Welt da draußen größer ist als der eigene Kopf“, meint zu Beginn des Films der junge Mann, der mit seiner neuen Freundin durch einen Schneesturm zum Farmhaus seiner Eltern fährt, um sie ihnen vorzustellen, während sie – in Gedanken – die noch frische Beziehung bereits wieder hinter sich lassen möchte.
I’m Thinking of Ending Things ist einer der klügsten und zugleich traurigsten Filme des vergangenen Jahres. Und natürlich ist keine Welt da draußen größer als das, was sich im Kopf Charlie Kaufmans abspielt.
Charlie Kaufman
Ameisig
Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner