Mit dem Abschied von Nationalratspräsident Sobotka aus seinem Amt verlieren die österreichischen Jüdinnen und Juden einen ihrer wichtigsten Förderer. Vor allem als Nationalratspräsident, aber auch schon zuvor in seiner Funktion als Innenminister war es Wolfgang Sobotka ein Anliegen, die jüdische Gemeinde auf das Allerbeste zu unterstützen. Sein Engagement kommt aus vollem Herzen.
Von Danielle Spera
Wolfgang Sobotka hat mich 2016 überrascht. Kurz nach seinem Amtsantritt als Innenminister rief sein Büro bei mir an und vereinbarte einen Besuch im Jüdischen Museum, dessen Direktion ich damals innehatte. Ich hätte nicht erwartet, dass das eine seiner ersten Handlungen als Minister sein würde. Und er nahm sich einen Nachmittag lang Zeit, mit meinem Team und mir die Geschichte der Jüdischen Gemeinde Österreichs bis ins Detail zu diskutieren. Von diesem Moment an verfolgte ich den außergewöhnlichen Enthusiasmus Sobotkas für das Judentum in Österreich und durfte seine Aktivitäten auch des Öfteren begleiten. Wie sein Engagement für das Judentum entstanden sei, wollte ich beim Gespräch für NU wissen, in dem Sobotka Bilanz zog:
Sobotka: Ich erledige alle meine Aufgaben mit Leidenschaft, das waren Themen wie Gesundheitsversorgung oder Wohnbau, bzw. Sicherheitspolitik als Innenminister. Das Thema Antisemitismus begleitet mich seit meinem 14. Lebensjahr, als ich mitbekommen habe, dass es in meiner Familie Täter gegeben hat. Da habe ich begonnen, im DÖW zu arbeiten. Später bin ich als Lehrer mit meinen Schülern jedes Jahr nach Mauthausen gefahren, damit sie sich damit auseinandersetzen. Durch das Parlament ist das jetzt mit einer breiteren Öffentlichkeit möglich. Hier hat mir die Kognitionswissenschaftlerin Prof. Schwarz-Frisel die Augen geöffnet. Denn ich hatte den Antisemitismus immer rechts verortet in der Geschichte: Wenn wir an Schönerer denken, an Richard Wagner oder Martin Luther. Heute kenne ich auch viel mehr Jüdinnen und Juden, und ich weiß um deren Sicherheitsbedürfnis. In welcher Zeit leben wir, dass wir das brauchen? Es ist beschämend, dass wir Sicherheitszäune um jüdische Gebäude und Bewacher brauchen. Die Polarisierung macht mich sehr nachdenklich
NU: Antisemitismus ist kein neues Phänomen.
Ich glaube, dass die Frage des Antisemitismus uns seit Jahren in irgendeiner Form immer wieder betroffen gemacht hat. Aber man hat sich nie wirklich systematisch damit auseinandergesetzt. Man hat immer gedacht, es reicht ja ein Gesetz gegen Wiederbetätigung, es reicht, dass man sich mit Schulprogrammen, dann mit Bildungsprogrammen an die Leute gewandt hat, dass man im Lager Mauthausen Bildung geleistet hat. Es gab aber nie ein Verständnis des tieferen Inhalts, dass Antisemitismus nicht nur eine negative Meinung ist, sondern demokratiegefährdend und antidemokratisch. Wenn man eine liberale Demokratie unterstützen will, ist das mit allen Möglichkeiten zu bekämpfen. Zumindest ist hier ein Bewusstsein entstanden.
Die Formen des Antisemitismus sind immer gleichgeblieben, doch die Argumentation hat sich geändert.
Seit den 1970er Jahren hat sich verstärkt Anti-Israelismus und Antizionismus breit gemacht. Dort ziehen die Bekämpfungsmuster nicht mehr, die man sich früher ausgedacht hat. Wer steht da dahinter? Das sind nicht die alten rechten Nazis, die Kellernazis, oder auch die neuen Rechten, sondern da sind auf einmal Linke, die mit ganz anderen Motivationen agieren. Dazu ist noch massiv die Migration dazugekommen, sodass wir jetzt eine dreifache Form des Antisemitismus haben. Hier verschränkt sich einiges und das ist eine dramatische Gefahr für die Demokratie.
Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang das Thema Migration?
Entscheidend ist, dass wir gesehen haben, dass Migration für uns nicht nur eine Wirtschaftsmigration ist, sondern dass sie unsere Gesellschaft wirklich verändert hat. Und es ist nicht verwunderlich, dass die Menschen, die aus dieser Region stammen, wo es außer Israel keine Demokratie gibt, mit einer antidemokratischen, antiisraelischen und antisemitischen Einstellung nach Österreich kommen. Das ist für unsere Demokratie sicherlich nicht förderlich. Hier stehen wir vor einer riesigen Herausforderung.
Die Haltung Österreichs gegenüber Israel und auch gegenüber der jüdischen Gemeinde hat sich seit 2017 komplett geändert.
Hier hat es klare Proponenten gegeben, Bundeskanzler Kurz, jetzt Bundeskanzler Nehammer, Karoline Edtstadler, neben Martin Engelberg auch einige Abgeordnete, die das als klares Bekenntnis sehen. Wenn wir an die 1970er Jahre denken, fällt einem natürlich Bruno Kreisky ein, der eine sehr prononciert propalästinensische Politik verfolgt hat. Heute haben wir eine komplett andere Politik gegenüber Israel, das hat sich tatsächlich erst 2017 geändert. Auch wenn die Waldheim- Affäre und dann das Bekenntnis von Bundeskanzler Vranitzky 1992 ein wichtiger Meilenstein waren. Wobei man sagen muss, das kommt ja nicht von Null, sondern das sind Prozesse, die mit Wiesenthal begonnen haben, sich mit Vranitzky wirklich manifestiert haben, dann in den Washingtoner Abkommen. Man hat sich aus der Opferrolle begeben, und sich zur Täterrolle bekannt. Dann kam auch die Bereitschaft für jüdische Einrichtungen etwas zu tun. Das Bekenntnis zu Israel als Staatsräson, das ist in diesen letzten Jahren entstanden.
Und diesem Bekenntnis sind viele weitere Schritte gefolgt.
Die Staatsbürgerschaftsnovelle war einer der wesentlichsten Schritte, wodurch Jüdinnen und Juden festgestellt haben, dass es Österreich ernst ist, seine Vergangenheit nicht nur zu benennen, sondern dafür auch etwas zu tun und dementsprechend den Nachfahren eine Möglichkeit zu geben, sich mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen und sich auszusöhnen. Wenn man so viel Leid zugefügt bekommt, ist aussöhnen ein viel zu hohes Wort, das kann man vielleicht nur als respektieren bezeichnen.
Seit dem 7. Oktober hat sich eine Täter-Opfer-Umkehr breit gemacht. Das ist schockierend und völlig unverständlich.
Da ist in Österreich viel passiert, aber leider Gottes nicht in Europa. Wir haben heute keine Einigung wie es sie gegen den IS gegeben hat. Im Gegenteil: die Hamas wird als Freiheitsbewegung oder liberale Bewegung gesehen, die für die Rechte der Palästinenser kämpft. Da muss man vom 7. Oktober als einem „Gefängnisausbruch“ lesen. Man muss sich schon fragen, wie es überhaupt möglich ist, so eine Meinung einzunehmen. Das kommt schon daher, dass sich die Betrachtung im politisch-historischen Kontext geändert hat. Durch das veränderte Darstellen des Postmodernismus. Da geht es darum, dass Fakten nicht mehr als Fakten begriffen werden, sondern Fakten grundsätzlich in Frage gestellt oder gänzlich ausgeblendet werden. Und damit gelingt es, Israel als eine Art Apartheidstaat und postkoloniale Macht hinzustellen. Man blendet aus, dass es immer die Araber waren, die seit 1948 die Zweistaatenlösung torpediert haben, und dass der Großmufti von Jerusalem ein Kooperationspartner von Hitler gewesen ist. Also das hat eine lange Geschichte. Und man muss immer feststellen, dass Israel nicht als Staat angegriffen wird, sondern Israel dient hier als ein Synonym für „den Juden“. Man kann Israel kritisieren, aber man muss sich einmal vorstellen, wenn das in Europa passieren würde, dass man an die Nordgrenze seines Landes fährt und dort schaut man in lauter Raketenstellungen der Feinde hinein, über die Südgrenze fliegen permanent Raketen oder Brandgeschütze, gleichzeitig gibt es permanent Terroranschläge. Das muss man sich vergegenwärtigen. Und dann heißt es, da sind die Juden mitschuldig.
Die Hamas wird massiv vom Iran unterstützt, wie viele andere Terrorgruppierungen, egal ob schiitisch oder sunnitisch, aber geht der Westen hier nicht ein bisschen zu lax mit dem Iran um? Auch aus Österreich hört man nicht, dass man den Iran ächten, dafür bestrafen muss, was er hier tut.
Wir haben den Iran seit den 1980er Jahren sanktioniert, die Wirtschaftsbeziehungen sind gleich null. Man muss sich die Sanktionen genau ansehen, denn normalerweise müsste ein Staat, der 44 Jahre sanktioniert wird, in seinen Grundfesten wanken, doch das tut er nicht. Allerdings leiden die Menschen enorm. Es wäre wichtig, die Demokratiebewegung dort zu unterstützen. Der größte Fehler war, Khomeini seinerzeit unterstützt zu haben. Das Regime des Schah war sicher auch keine Paradedemokratie. Aber im Rückspiegel schaut immer alles anders aus. Sanktionen sind die einzige Waffe, die die freie Welt hat, die allerdings nicht so greift.
Aber ist es nicht auch eine Frage des Islam?
Wie der Islam sich mit Demokratie auseinandersetzt, ist der entscheidende Punkt. In jedem Islamischen Staat von der Türkei angefangen, wird die katholische Kirche drangsaliert. Und es gibt keine katholischen Attentäter, die dem Islam etwas Böses wollten. Ganz zu schweigen, was in Syrien passiert oder im Libanon, der einmal die Schweiz des Nahen Ostens war, wo die Religionen zusammengelebt haben: Drusen, Maroniten, Muslime aller Schattierungen und Christen, heute ist keine Rede davon. Innerhalb der islamischen Religion sollte man zeigen, wie man sich von dieser Radikalität abgrenzt und sich ernsthaft mit dem Verhältnis zur Demokratie auseinandersetzt. Das kann ich als Nicht-Muslim aber leicht fordern. Der Unterschied ist, dass das Judentum nie missionieren wollte. Die Christen haben mit ihrer Missionierung durch Jahrhunderte hindurch viel Leid über die Welt gebracht und schlussendlich erkennen müssen, dass das nicht das Heil bringt, sondern eher das Unheil. Unter den Muslimen gibt es viele, die die Radikalität und Gewalt nicht akzeptieren. Es ist sicherlich die Mehrzahl, die mit dem gar nicht einverstanden ist, aber trotzdem: die Minorität ist lautstark. Da geht es dann darum, was ist ein guter Muslim. Dort gibt es schon sehr viele Dinge, die sich mit unserer liberalen Demokratie nicht vertragen. Es kann keine Parallelgesellschaft geben, es kann keine Scharia geben, die letzten Endes über dem Recht steht.
Das ist schon ein Problem, mit dem wir uns auch hier auseinandersetzen müssen: Mittlerweile gibt es schon 900.000 Muslime in Österreich, Tendenz wachsend.
Es ist nicht die Menge, die mich irritiert. Es ist schlicht und ergreifend der Einfluss, den radikale und streng religiöse Sekten auf andere ausüben wollen und sie unter Druck setzen und damit auch die Gesamtgesellschaft unter Druck setzen. Wir sind mit der islamischen Glaubensgemeinschaft in gutem Kontakt. Sie sind sich des Problems bewusst, nur die Schritte, die gesetzt werden, greifen nicht wirklich. Das ist ein Grund, warum sich auch bei uns der Antisemitismus in einem verschärften Ausmaß verfestigen konnte. Hier muss alles getan werden, um dort anzusetzen. Das ist das Wichtigste seit 2017, dass wir das sehr klar benennen. Die Gleichung, ein Antifaschist kann kein Antisemit sein, stimmt nicht mehr.
Gerade in diesen Jahren ist so viel passiert im Kampf gegen Antisemitismus. Es gibt unzählige Initiativen, in die viel Energie und Geld geflossen sind. Aber man hat den Eindruck, es bleibt alles unter den Menschen, die ohnehin guten Willens sind und eine gute Grundhaltung haben. Aber das ist nicht genug, dass wir einander ständig erzählen, wie schlimm alles ist. Es bleibt unter uns.
Sobotoka: Ich sehe das nicht so. Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass Jugendliche, die über den Holocaust und über Antisemitismus Bescheid wissen, weniger antisemitisch sind. In der Demokratiewerkstatt haben wir 22.000 Besucher, oder Workshops an den Schulen, auch die Gedenkstätte Mauthausen hat hier einen ganz wichtigen Beitrag geleistet. Da passiert etwas und das ist wichtig, dass wir das tun. Bei den Gedenkveranstaltungen treffen sich tatsächlich immer wieder dieselben Leute. Deshalb war mir auch der Simon-Wiesenthal-Preis so wichtig, um Projekte von Menschen aus der Zivilgesellschaft auszuzeichnen, die aus eigener intrinsischer Motivation etwas tun. Da hat sich seit den 1970er Jahren viel getan, ein Fall Borodajkewicz wäre jetzt nicht mehr möglich, oder der Streit Kreisky gegen Simon Wiesenthal. Da hat sich schon massiv etwas geändert. Natürlich auch, dass die Generation verschwunden ist. Es ist aber notwendig zu erkennen, dass Antisemitismus nicht nur in der rechten Ecke verortet ist, er kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Es gibt einen rechten, einen linken, einen Migrations- und sogar einen Feuilleton-Antisemitismus. Was kann man dagegen tun? In erster Linie betrifft das die Medien. Wenn man den ORF anschaut, dann finde ich die Berichterstattung wirklich skandalös, es trifft aber genauso die Printmedien und die Plattformen. Hier lasse ich mir keine Belehrungen mehr erteilen in welche Richtung man gehen muss, denn diese Medien haben eine schwere Schlagseite. Wenn man nur Berichte von Al Jazeera oder Reuters übernimmt, bedient man nur Stereotypen. Das ist ein negatives Kulturphänomen. Es sind immer dieselben Bilder: Der reiche Jude, der einflussreiche Jude, der Kindermörder, immer die gleichen Stereotype seit Jahrtausenden, wie ein „gebrandetes“ Bewusstsein. Das zu verändern ist unendlich schwer. Das geht nur mit zivilgesellschaftlichem Engagement. Dass wir den Antisemitismus ausradieren, diese Hoffnung hege ich in unserer Generation nicht mehr. Aber es geht darum, ihn so in Zaum zu halten, dass er nicht permanent aufschäumt. Man kann Einstellungsmuster der Menschen nicht so schnell ändern, aber man kann ein klares Bewusstsein der Öffentlichkeit schaffen, dass das einfach nicht geht. Beim Fußballmatch singen die meisten auch noch die Bundeshymne ohne Töchter, weil kein Bewusstsein dafür da ist. Das wird noch Generationen brauchen.
Vielleicht liegt es auch ein bisschen daran, dass wir das Judentum auf tote Juden konzentrieren. In Österreich wird das Judentum immer nur auf die Jahre 1938 bis 1945 reduziert. Das ist viel zu wenig. Man muss die Geschichten erzählen. Auch aus den Bundesländern, wie viele Jüdinnen und Juden am Land in Dörfern gelebt haben, nicht nur in den Großstädten.
Ja, man muss jüdisches Leben zeigen. Ein Preisträger des Simon-Wiesenthal-Preises war ein spanisches Dorf, das seine eigene jüdische Geschichte aufgearbeitet und seither ein ganz anderes Verhältnis dazu entwickelt hat. Da würde ich mir österreichische Dörfer wünschen. Aber schauen wir z. B. nach Bad Erlach, dort ist jetzt aus der jüdischen Geschichte des Ortes ein jüdisches Museum entstanden. Es gibt viele Initiativen.
Von den vielen Begegnungen, die Sie mit Jüdinnen und Juden hatten, was bleibt immer in Erinnerung?
Auf jeden Fall jede Begegnung mit Überlebenden, oder auch mit rabbinischen Größen wie Rabbiner Schwarz, aber auch alle anderen Rabbiner, von Paul Chaim Eisenberg angefangen. Das bleibt unvergessen. Oder auch die Repräsentanten der jüdischen Gemeinschaften, national wie international. Daniela Epstein, die mich zwei Mal durch Jerusalem geführt hat, beeindruckte mich mit ihrem Wissen. Arik Brauer, den ich gar nicht so gut gekannt habe, aber seine Einstellung und seine Haltung haben mich immer fasziniert. Ein Buch, das ich immer wieder gelesen habe, ist der Dialog zwischen Viktor Frankl und Pinchas Lapide über Gottsuche und Sinnfrage. Viktor Frankl hat mich seit 1988 besonders fasziniert, da habe ich noch als Lehrer gearbeitet. Seine Rede am Rathausplatz hat mich in Mark und Bein erschüttert. Oder meine Begegnungen mit Rabbiner Arthur Schneier, der als Kind aus Wien flüchtete, auch die jüngere Generation, die so kämpferisch auftritt. Alles hat seinen Platz in meinen Erinnerungen.