Louis Begley erklärt in seinem neuen Buch „Der Fall Dreyfus: Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte“, was uns ein Justiz-„Irrtum“ des 19. Jahrhunderts heute noch zu sagen hat.
Rezension von Thomas Höhne
Der englische Originaltitel „Why the Dreyfus Affair Matters“ gibt wesentlich klarer zu erkennen, worum es dem Autor geht, als der schwülstig-holprige deutsche Titel. Guantánamo nimmt in dem 250-Seiten-Buch auch nur einen quantitativ geringen Teil ein, dafür wird die Dreyfus-Affäre, die ihren Protagonisten Ende des 19. Jahrhunderts zu einem der weltbekanntesten Menschen machte, minutiös dokumentiert.
Der Fall in Kürze: 1895 flog in der französischen Armee eine peinliche und unangenehme Spionageaffäre auf. Warum der Verdacht sofort auf Dreyfus fiel, hatte zwei Gründe: zum einen die äußerst dilettantischen und schlampigen Versuche um Aufklärung des Falls, und zum anderen – was wiederum den „großzügigen“ Umgang mit Beweisen förderte – den in Frankreich generell und in der Armee im Besonderen grassierenden Antisemitismus. Spionage für den deutschen Erbfeind? Ein echter Franzose tut so etwas nicht. Dreyfus, einziger jüdischer Anwärter auf den Dienst im Generalstab, hatte Zugang zu den fraglichen Informationen. Und er war als Jude kein „echter“ Franzose. Die Armee brauchte einen Sündenbock, um sich zu reinigen. Dass der reiche und extrem loyale Dreyfus kein Motiv hatte, kümmerte niemanden.
So – why does the Dreyfus affair matter? Begley stellt detailliert das jahrelange Tauziehen zwischen Bush-Administration und Supreme Court um die Rechte der Guantánamo-Gefangenen dar. Kongress und Pentagon griffen tief in die Trickkiste – wie seinerzeit die französischen Behörden, gegen die Dreyfus nach seiner vierjährigen mörderischen Haft auf der Teufelsinsel harte sieben Jahre lang kämpfte, bis er endlich rehabilitiert war. Ohne seine prominenten Mitstreiter wie Jean Jaurès oder Emile Zola wäre Dreyfus chancenlos gewesen, wie auch die ganze Affäre nicht möglich gewesen wäre ohne den französischen Armeekult „und die mit ihm verbundene Angst vor der traumatischen Erfahrung, dass zwei Minister und ein Generalstabschef als mediokre Verbrecher entlarvt werden“ (die sich alle der wiederholten Lüge und Verleumdung, der Dokumentenfälschung und Zeugenbeeinflussung schuldig gemacht hatten). Why does the Dreyfus affair matter? Begley zitiert die „entscheidende und prophetische Frage“ Emile Zolas, „die bis heute Zweifel an jeder Kriegsgerichtsbarkeit weckt: Hätte man erwarten können, dass ein Militärgericht die Entscheidung eines anderen Militärgerichts rückgängig machen würde?“ Nein. Und das galt für die Militärgerichte, die Dreyfus wiederholt schuldig sprachen, in gleicher Weise wie für jene, die über die Guantánamo- Gefangenen zu richten hatten.
Als Dreyfus 1906 endlich freigesprochen wurde, wirbelte das in der französischen Gesellschaft, durch die zuvor noch ein Riss zwischen Dreyfusards und Anti-Dreyfusards gegangen war, kaum mehr Staub auf. Frankreich hatte bereits andere Sorgen. „Werden“, so fragt Begley, „auch die Verbrechen der Bush-Regierung eines nicht allzu fernen Tages unter dem Narbengewebe aus Schweigen und Gleichgültigkeit verschwinden, so wie die Verbrechen gegen Dreyfus in Frankreich? Es ist noch zu früh, das zu entscheiden. Die großen Dramen und Romane, die uns die Augen öffnen für alles, was die Zeit und das Vergessen bewirken können, müssen noch geschrieben werden.“ Dafür, so Begley, sei es wohl noch zu früh, da „man noch nicht abschätzen kann, welchen Schaden in der Struktur der amerikanischen Gesellschaft die Bush-Regierung mit den Verbrechen und Rechtsverletzungen ihrer Kriegsführung angerichtet hat.“ Dass kurz nach der Wahl Obamas 44% der in einer Umfrage befragten Amerikaner gegen die Schließung Guantánamos und nur 29% dafür waren, gibt uns eine Ahnung von den Dimensionen, die Begley anspricht. Und die Veröffentlichungen im Jahr 2009 über die österreichischen Strafverfolgungsbehörden geben uns eine Ahnung davon, was Vorurteile, schlampige Gerichtsarbeit, falsche Kameraderie und bewusste Rechtswidrigkeiten selbst in einem modernen Rechtsstaat, auf den wir uns doch alle verlassen (wollen), bewirken können.
Das packende Buch des Rechtsanwalts Begley führt uns nicht nur in einen Justiz- und Politkrimi des 19. Jahrhunderts, sondern mahnt uns auch, uns nicht blindlings auf diesen Rechtsstaat zu verlassen. Er verfügt zwar über die Instrumente, um Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen, aber es kommt sehr wohl darauf an, von wem sie und wie sie gehandhabt werden – und wer deren Handhabung kontrolliert.
DER AUTOR
Louis Begley, geboren 1933 als Ludwig Beglejter in Galizien, damals Polen, 1959–2004 Rechtsanwalt in New York. Mit seinem ersten Roman (verfasst während eines Sabbaticals) „Lügen in Zeiten des Krieges“, mit dem er seine Geschichte als verstecktes und christlich getarntes jüdisches Kind aufarbeitete, international bekannt geworden; es folgte „Wie Max es sah“ und „Der Mann, der zu spät kam“. „About Schmidt“ wurde mit Jack Nicholson verfilmt. In „Ehrensachen“ erzählt er von einem polnisch-jüdischen Flüchtling, der sich in einen Amerikaner verwandelt.
DAS BUCH
Der Fall Dreyfus. Teufelsinsel, Guantánamo, Alptraum der Geschichte
2009, Suhrkamp,
248 S., EUR 20,40.