Von Erwin Javor
Im Orient haben Märchenerzähler Tradition. „Erzähle uns von diesen Geschehnissen und schmücke unsere Ohren …!“ Journalisten hingegen sammeln „möglichst vielfältige Informationen, die ein Thema aus unterschiedlichen und widerstreitenden Blickwinkeln beleuchten, um so eine ausgewogene Berichterstattung zu ermöglichen“, so zumindest definiert es Wikipedia. Und was ist Karim El- Gawhary, unser preisgekrönter, präsentester Informant über den Arabischen Frühling? Ein Journalist? Oder doch eher ein Märchenonkel? Hier einige Hinweise, entweder aus El-Gawharys „Tagebuch der arabischen Revolution“ oder aus Originalinterviews gewonnen, die zu seiner Einordnung dienen können. Besonders beliebte Informanten kommen bei El-Gawhary aus der Verwandtschaft. Als er gehört hatte, dass sogar seine 75-jährige ägyptische Tante auf den Tahrir-Platz ziehen würde, dachte er sich: „Nun ist es um Mubarak geschehen.“ Sein Vater bekommt den Status einer „wichtigen Quelle“, die ihm vom Tahrir-Platz „regelmäßig berichtet“ hat. Ansonsten tauchen in seinen Reportagen vorwiegend Akademiker auf, aber keine Analphabeten und Bildungsferne, die Ägyptens Bevölkerung ja nicht unwesentlich prägen.
Ein christlich-koptischer Intellektueller sicherte El-Gawharys Prognosen einer neuen, besseren Welt ab: „Früher wollten meine Kinder auswandern, jetzt haben sie als Christen erstmals das Gefühl dazuzugehören, das hat die Revolution erreicht!“ Ein paar Monate später meinte allerdings das Kairoer Büro der „Federation of Human Rights“, dass bereits 93.000 Kopten das Land verlassen hätten. Tendenz stark steigend. Irgendwann interviewte El-Gawhary auch einen Muslimbruder. Nachdem der gesehen hatte, was sich am Tahrir-Platz tat, glaubt er, dass Frauen alles könnten. War ja wirklich berührend, wie Studentinnen über Facebook „mit im Wind wehenden Haaren“ Essen für die Demonstranten organisierten und andere Frauen meinten, sie seien jetzt „respektiert“ und „befreit“.
Der drastische Antisemitismus im späteren ägyptischen Wahlkampf war El-Gawhary keine Erwähnung wert. Aber er sieht es als eine Segnung der ägyptischen Revolution, dass Israel keinen Deal mehr mit arabischen Diktatoren machen könne, sondern in Zukunft die arabische öffentliche Meinung überzeugen müsste.
El-Gawhary räumte zwar ein, dass keiner wüsste, was kommen wird, verkündet aber trotzdem, die neue arabische Welt wäre jetzt wesentlich pluralistischer und komplexer, was gegen eine islamistische Machtübernahme spräche. Klares Schwarz und Weiß, kein lästiges Grau. Die böse Stiefmutter (Mubarak) muss in glühenden Pantoffeln tanzen und der Prinz (die junge, gebildete, demokratische Facebook-Generation) rettet die Prinzessin (Ägypten), dieses ach so schöne Märchen vermittelte er mit viel Gefühl. Die Leute auf der Straße waren „Helden“ und die Freudentränen flossen: „Ich stand auf der Straße mit Tränen in den Augen … das ist der schönste Tag in meinem Leben“.
Der Realitätstest entscheidet letztlich, ob wir einen Journalisten vor uns haben oder einen Märchenonkel, der die verständliche Sehnsucht nach Happy Ends befriedigt. Wer auf El-Gawhary hörte, glaubte ihm auch, dass die Islamisten nur mehr eine Randerscheinung wären. Aber sie gewannen bei den Parlamentswahlen 75 Prozent der Stimmen. Von den „befreiten“ Frauen fanden sich in der neuen Volksvertretung, nachdem die unter Mubarak eingeführte 12-Prozent-Frauenquote gestrichen worden war, nur noch zehn unter den insgesamt 508 Abgeordneten. Die Kandidaten für die Stichwahl für das Präsidentenamt waren Mubaraks letzter Ministerpräsident Ahmed Shafik, dem El-Gawhary überhaupt keine Chancen gegeben hatte, und Mohammed Mursi von der Muslimbruderschaft. Letzterer hatte schon beim Wählerstimmenfang angekündigt, dass Frauen ebenso wie die koptische Minderheit von wichtigen politischen Positionen fernzuhalten seien. Israelis definierte er als „Killer und Vampire“.
Es kam, wie es kommen musste und jeder sachlich und unvoreingenommen analysierende Journalist hätte es wissen können. Von Demokratie und neuer Ordnung keine Rede, das reale Programm ist Chaos.
Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.