Kommentar von Andrea Schurian
Bomben der Alliierten töteten im Zweiten Weltkrieg mehr als 600.000 deutsche Zivilisten: Alte, Junge, Nazis, Nicht-Nazis, Mitläufer, Widerstandskämpfer. Furchtbar? Ja. Doch nur so konnte Europa, konnte die Welt vor achtzig Jahren von der braunen Pest befreit werden, die das Dritte Reich mit einem dichten Netz an Konzentrations- und Massenvernichtungslagern überzogen und Millionen Menschen – Jüdinnen, Juden, politisch Verfolgte, Homosexuelle – grausam ermordet hatte. Nie mehr wieder!, hieß es seither bei Gedenkveranstaltungen, im Geschichtsunterricht, in Diskussionsrunden, in politischen Debatten. An diesen geradezu verzweifelt hoffnungsvollen Schwur wollten wir glauben, Juden ebenso wie Nichtjuden, um mit den unfassbaren, menschenverachtenden, zynischen Grausamkeiten der nationalsozialistischen Massenmörder irgendwie zurande zu kommen. Doch seit Hamas-Terroristen und palästinensische Mitläufer am 7. Oktober 2023 in südisraelischen Kibbuzim Junge und Alte bestialisch gemordet, gebrandschatzt, vergewaltigt, gefoltert, geköpft, hunderte Menschen entführt haben, wächst auf der ganzen Welt, nein, nicht etwa Islamismus- und Hamas-Ablehnung, sondern absurderweise Israel- und Judenfeindlichkeit. Nennt sich Täter-Opfer-Umkehr. In den USA ist Antisemitismus mittlerweile auf Rekordniveau. 9354 verbale und körperliche Attacken, antijüdische Vandalenakte und Belästigungen gab es im Jahr 2024; das ist ein 344-prozentiger Anstieg gegenüber den letzten fünf und gar ein 893-prozentiger Anstieg gegenüber den letzten zehn Jahren. In Österreich hat sich Antisemitismus zum opulenten Bindeglied zwischen linkem, rechtem und islamistischem Extremismus gemausert. Autochthoner brauner Bodensatz wird fleißig gedüngt mit importierter, islamistisch grundierter Judenfeindlichkeit. Und die wiederum kann sich lauthalser link(sextrem)er Unterstützung brüsten. Woke Sittenhüter, die üblicherweise jedes Rastazöpfchen als Cultural Appropriation verdammen, eignen sich seit Oktober 2023 zugleich mit dem PLO-Tuch auch das dazugehörige Revolutionsgehabe an. So referierte an der Wiener Universität für angewandte Kunst eine junge Frau bei einer Pro-Palästina-Veranstaltung, es habe am 7. Oktober gar kein Massaker an israelischen Zivilisten gegeben („there was no aggression!“). Klingt nach Auschwitzlüge reloaded. Ein jüdischer Student, der diese Fake-News-Demonstration filmen wollte, wurde mit „Leave now!“-Sprechchören und Handgreiflichkeiten unsanft hinauskomplimentiert. Auch in der Nazizeit wurden Jüdinnen und Juden zuerst aus Schulen und Hörsälen geworfen, ehe sie in Vernichtungslager abtransportiert wurden.
Beauftragt vom österreichischen Parlament erhebt IFES, das Institut für empirische Sozialforschung, seit 2018 antisemitische Einstellungen der in Österreich lebenden Menschen (siehe Seite 34). In der zuletzt veröffentlichten Studie sind 13 Prozent der Befragten sogar manifest, 33 Prozent latent antisemitisch. Bei Personen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund sind sogar 27 Prozent massiv und fast die Hälfte der Befragten, nämlich 48 Prozent, latent antisemitisch eingestellt. Fast ein Viertel der Studierenden hält Israel für einen Apartheidsstaat. Das tun auch vorgeblich menschenrechtsaktive Leinwandgrößen und Hollywooderscheinungen. Die texten, ohne schamrot zu werden, das von Islamisten ausgegebene Ziel, zunächst alle jüdischen Menschen, später alle Ungläubigen weltweit auszurotten, zum legitimen Befreiungskampf um. Anfang des Jahres etwa machte Tilda Swinton, berühmt-berüchtigt für verhaltensoriginelle Nahost-Analysen, als Berlinale-Ehrengast Propaganda für die antisemitische und antiisraelische BDS(Boykott, Desinvestition und Sanktionen)-Bewegung, in der übrigens auch bekennende Hamas-Kollaborateure zugange sind. Was wiederum nicht sehr verwunderlich ist, schließlich eint Hamas und BDS das gemeinsame Ziel, Israel „from the river to the sea“ von der Landkarte zu löschen. Kein Wort verlor Swinton zum Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 als Ursache des Nahostkriegs. Kein Wort zu den von Hamas-Terroristen obszön inszenierten Geiselfreilassungen. Statt dessen dozierte sie, wie immer in feinste Designer-Edelklamotten gehüllt, wortreich über den „vom Staat verübten und international ermöglichten Massenmord“. Interessante Neudeutung der jüngsten Nahost-Geschichte. Massenmörder sind also die Israelis, nicht aber palästinensische Terrorfachkräfte und Hamas-Schergen, die sich ohne Rücksicht auf Menschenopfer hinter und unter der Zivilbevölkerung verstecken? Den Anliegen der Israelis, der Jüdinnen und Juden weltweit, der Palästinenserinnen und Palästinenser, die ihr Leben riskieren, wenn sie im Gazastreifen gegen die Hamas demonstrieren, den Anliegen all jener, die ein Leben in Freiheit und Vielfalt ersehnen, hat Swinton jedenfalls keinen Dienst erwiesen. Weltweit werden Synagogen beschmiert, Jüdinnen und Juden herabgewürdigt. Jüdische Studierende fühlen sich auf den Unis nicht mehr sicher. Vor ein paar Tagen erst fasste in Deutschland Mustafa A. eine dreijährige Freiheitsstrafe aus, weil er Lahav Shapira, seinen jüdischen Kommilitonen an der Freien Universität Berlin, beinahe umgebracht hätte. „Musti hat den Judenhurensohn totgeschlagen“, feixte Mustafas Freund in einem via Snapchat versendeten Video. Beim Kampf gegen die Hamas geht es um die pure Existenz Israels und um die Verteidigung westlicher, liberaler Werte.
Doch leider herrscht offenbar auch achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs kein gesellschaftlicher Konsens darüber, dass Antisemitismus und Judenhass in zivilisierten Ländern nicht mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung schöngeredet werden dürfen.