Sigmund Freud hat stets den Anspruch erhoben, die Psychoanalyse ist eine Wissenschaft und damit allgemein gültig. Der Londoner Professor Stephen Frosh stellt nun die These auf, dass die Psychoanalyse eine „jüdische Wissenschaft“ ist. NU hat mit ihm in London gesprochen.
Von Axel Reiserer
NU: Sigmund Freud hat stets den Anspruch erhoben, die Psychoanalyse sei eine Wissenschaft und damit allgemein gültig. In Ihrem Buch „Hate and the Jewish Science“ stellen Sie nun die These auf, die Psychoanalyse sei eine „jüdische Wissenschaft“. Welche Belege haben Sie dafür? Frosh: Freud hatte eine komplexe jüdische Identität. Er war nicht religiös und hielt Religion für „Illusion“, wie er immer wieder schrieb. Zugleich bekannte er sich zeit seines Lebens klar zu seinem Judentum, in früheren Jahren durchaus ambivalent, später angesichts des wachsenden Antisemitismus immer offensiver. NU: Also eine jüdische Identität aus Abwehrhaltung, sozusagen fremdbestimmt? Frosh: Mehr als das. In jüngeren Jahren versuchte Freud fast krampfhaft, sich von den verarmten ostjüdischen Zuwanderern abzugrenzen. Angesichts des wachsenden Antisemitismus der späten 1920er und frühen 1930er Jahre ist er dann dazu übergangen, sein Judentum geradezu hinauszuposaunen. Der von außen einwirkende Antisemitismus sicherte also Freuds starke positive Identifizierung mit seinem Judentum. NU: Wie hat sich das Ihrer Meinung nach auf die Entwicklung der Psycho-analyse ausgewirkt? Frosh: Es gibt auf mehreren Ebenen starke Verknüpfungen mit Freuds jüdischer Identität. Neben ihm waren praktisch alle Mitbegründer der Psychoanalyse Juden. Bis 1907 hatte die Psychoanalytische Gesellschaft ausschließlich jüdische Mitglieder. Die Ablehnung, auf die Freuds Entdeckungen stießen, und der Antisemitismus, mit dem er konfrontiert war, führten dazu, dass er seine Lehre zu einer Bewegung formte, die eng zusammenhalten musste und große Probleme mit „Abweichlern“ hatte. Inhaltlich rekurriert die Psychoanalyse auf das reiche Erbe der jüdischen Kultur: die Mission, das Unbekannte, Mystische, Unbewusste durch Rationalität zu durchdringen; die Technik der freien Assoziation; die Faszination an der Macht des Wortes; die am Talmud geschulte Technik der Auslegung; die nie endende Suche nach Erkenntnis; das freie Denken innerhalb eines sehr strikten Regelwerks. NU: Sie schreiben, Freud sei es wegen seiner zwiespältigen Identität möglich gewesen, gleichsam von außen nach innen zu blicken. Frosh: Ja. Er hat sozusagen den in Jahrhunderten an religiösen Studien geschulten jüdischen Geist befreit und auf ein anderes Themenfeld – die Erforschung der Psyche – umgelegt. Vergleichbares finden wir um die Jahrhundertwende auf vielen anderen Gebieten von Wissenschaft und Kultur, wo der jüdische Geist die engen religiösen Grenzen überspringt und in anderen Bereichen fruchtbar wird. Das reicht von der Literatur bis zur Politik. Vergessen Sie nicht, das war eine Zeit riesiger Umwälzungen! Im selben Jahr 1905, als sich Trotzki an die Spitze der ersten Russischen Revolution stellte, veröffentlichte Einstein die Grundlagen der Relativitätstheorie und Freud veröffentlichte seine Abhandlung über den „Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“. NU: Sie sagen, Freud hat eine geschlossene Gruppe als Abwehr gegen den Antisemitismus geformt. Frosh: Ja, und wir finden gerade angesichts einer feindlichen Außenwelt in dem von Freud begründeten Kreis einen Stolz auf ein besonderes Wissen, der mit dem Bewusstsein des auserwählten Volkes vergleichbar ist. Freud selbst wendet sich in den Jahren der gesellschaftlichen Ächtung an andere jüdische Kreise, die B’Nai B’Rith-Gesellschaft, über die er rückblickend (1926, Anm.) schreibt: „Ich war zu dieser Zeit (1895, Anm.) geächtet, von allen gemieden. Diese Isolation weckte in mir das Verlangen nach einem Kreis herausragender Männer mit hohen Idealen. Dass Sie alle Juden waren, war mir nur willkommen, denn ich war selbst Jude, und es war mir stets nicht nur unwürdig, sondern nachgerade dumm erschienen, das zu leugnen. Was mich ans Judentum band, war – ich bin schuldig, es zu bekennen – nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz, denn ich war immer ein Ungläubiger, bin ohne Religion erzogen worden, wenn auch nicht ohne Respekt vor den ‚ethisch‘ genannten Forderungen der menschlichen Kultur. (…) Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten, als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der ‚kompakten Majorität‘ zu verzichten.“ NU: Zugleich war es aber Freud, der – gegen die Meinung vieler Freunde und Kollegen – den umstrittenen C.G. Jung richtiggehend umwarb. Frosh: Freud war sich der Gefahr be-wusst, dass die Psychoanalyse quasi als jüdische Angelegenheit abgetan wird. Dagegen wollte er mit der wichtigen Rolle für Jung angehen. „Der Schweizer wird uns alle retten“, sagte er einmal. NU: Was Jung dann aber nicht getan hat. Frosh: Keineswegs. Er war ein offener Antisemit, der sich von den Nazis benutzen ließ und später behauptete, er habe alles nur zum Schutz der Psychoanalyse getan. NU: Gerade die Nazis haben dann die Psychoanalyse als „jüdische Wissenschaft“ gebrandmarkt und verfolgt. Frosh: Die Nazis haben die Psychoanalyse verfolgt, weil die führenden Vertreter Juden waren, aber auch wegen ihres Inhalts, der nach ihrer Ansicht subversiv, die Volksgemeinschaft untergrabend, auf das Individuum und die Sexualität ausgerichtet war. Freuds Schriften wurden schon 1933 öffentlich verbrannt. Bis 1935 wurde die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft vollständig „arisiert“. Dank internationaler Bemühungen konnten praktisch alle jüdischen Psychoanalytiker Deutschland rechtzeitig verlassen, was ironischerweise maßgeblich zu ihrer enormen Verbreitung in den USA und Großbritannien beitrug. Freud selbst war lange in verzweifelte Versuche eingebunden, ein Überleben der Psychoanalyse in Nazi-Deutschland zu ermöglichen. Die Nazis wollten eine „arische Psychotherapie“ im Dienst des Regimes als Gegenstück zur „jüdischen Psychoanalyse“ etablieren. Dennoch konnte unter dem Dach der Deutschen Medizinischen Gesellschaft für Psychotherapie, die von Matthias Göring – einem Cousin von Hermann Göring – geleitet wurde, Freuds Psychoanalyse in der so genannten Arbeitsgruppe A in kleinem Maße weiter praktiziert werden. Die Geschichte der Psychoanalyse unter den Nazis ist eine verzweifelte Geschichte von Appeasement, Fehleinschätzungen, Anpassung, Verdrängung und Überlebenswillen. Stephen Frosh ist Professor für Psychologie am Birkbeck College, Universität London. Nach Jahren als klinischer Psychoanalytiker widmet er sich in den letzten Jahren der Wissenschaft. Angeregt aus der klinischen Erfahrung, beschäftigt er sich intensiv mit Identitätsfragen und Rollenbildern. Für Aufsehen sorgte in Großbritannien seine 2002 veröffentlichte Studie „Young Masculinities“, in der die Autoren anhand umfangreichen empirischen Materials aus Londoner Schulen nachweisen, wie junge Männer aufgrund vielfältigen Drucks bereit sind, eher ihre eigene Entwicklung zu behindern als bestimmten Rollenmodellen nicht zu entsprechen bzw nachzueifern. Selbst Mitglied einer „ziemlich orthodoxen Gemeinde“, wie er sagt, gilt Froshs persönliches Interesse Fragen der jüdischen Identität, insbesondere jener nach einem sekulären jüdischen Selbstverständnis, dessen erster Held nach seiner Ansicht Spinoza war und dem er auch Freud zuordnet.