Isaac Bashevis Singer, literarischer Archivar chassidischer Kultur, ist der einzige jiddische Autor, der mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Jede seiner Figuren macht ein Stück von Singers eigener Lebensgeschichte unsterblich.
Von Andrea Schurian
Shots baym hodson hieß der Fortsetzungsroman, den Isaac Bashevis Singer (1902/04–1991) zwischen Jänner 1957 und Jänner 1958 in der jüdischen Zeitschrift Forverts veröffentlichte, auf jiddisch selbstverständlich, so wie vorher und nachher alle seine Romane, Erzählungen und Essays. Das Jiddische war seine Welt. Die wollte er vor dem Verschwinden bewahren, ebenso wie sein Bruder Israel Joshua Singer 1893–1944), Verfasser etwa des Romans Di brider Aschkenasi (Die Brüder Aschkenasi) sowie seine Schwester Esther Singer Kreitman (1891–1954), die 1936 ihren ersten, auch ins Deutsche übersetzten Roman Der Sheydims Tants (Tanz der Dämonen) veröffentlichte. Entstanden im mittelhochdeutschen Sprachraum, wurde Jiddisch zunächst zur Alltagssprache des Schtetls und im 19. Jahrhundert auch zur modernen Literatursprache, die vor allem durch zwei Bewegungen gefördert wurde: dem Chassidismus und der Haskala, also der innerjüdischen Aufklärung.
Gewinen oder farlirn
Schätzungen zufolge verwendeten vor dem Zweiten Weltkrieg mehr als zehn Millionen Menschen weltweit das Jiddische als Alltagssprache, heute sind es höchstens noch einige Hunderttausend. Auf die Frage, welcher Nationalität er sich zugehörig fühle, antwortete Singer, gebürtiger Pole, der auch in Russland, jedoch die meiste Zeit seines Lebens in den USA lebte, stets: „Ich bin ein jiddischer Schriftsteller.“ Das Jiddische als Sprache der ostjüdischen Aschkenasen war für ihn Sprachheimat. „Men fregt mich oft, far woß schraibßte jiddisch?“, man habe ihn oft gefragt, warum er jiddisch schreibe. Warum nicht, frage er dann zurück, schließlich hätten beide Eltern jiddisch gesprochen: „Doß is majn schprach. In der dosiker schprach will ich gewinen oder farlirn“. Bekanntlich gewann er in dieser Sprache im Jahr 1978 als bisher einziger jiddischer Autor den Nobelpreis für Literatur.
Singer wollte der chassidischen Welt seiner Eltern entkommen – und wurde doch stets von ihr eingeholt. In Shots baym hodson erzählt Singer von der (Über-)Lebenskunst osteuropäischer Juden, die vor „Hitlers shekhites“ (Hitlers Schlächterei) ins New Yorker Exil flüchteten. Erst vierzig Jahre nach der Erstveröffentlichung wurde der Roman zuerst ins Englische, 2001 unter dem Titel Schatten über dem Hudson auch ins Deutsche übersetzt. Singer bevölkert diese Comédie humaine (wie auch all seine anderen literarischen Werke) mit Figuren und Geistern, die ihm von Kindheit und Jugend an aus dem polnischen Schtetl vertraut waren. Da ist einmal der Warschauer Kaufmann Boris Makaver, der in Ger eine Talmudschule besucht hat, reich heiratet, als Witwer nach Berlin zieht, schließlich vor den Nazis nach New York flieht und im Exil wieder fromm wird. Oder Makavers ehemaliger Jeschiwa-Kollege, der Arzt Solomon Margolin, der zum Atheisten wird, nachdem ihn seine Berliner Frau wegen eines Nazis verlassen hat. Den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden erachtet er als „reine Gedankenkonstruktion“. Dann gibt es den Berliner Nachhilfelehrer Hertz Grein. Der Sohn eines Thora-Schreibers wählt ein weltliches Studium, brennt mit einem Mädchen nach Amerika durch, bringt es als Börsenmakler zu Wohlstand und übersiedelt nach Liebesverirrungen zwischen drei Frauen ins orthodoxe Viertel Mea Shearim in Jerusalem.
Auch in seinem posthum veröffentlichten Buch Meschugge geht es um jüdische Exilanten, die sich in New York ein hermetisch abgeschlossenes Paralleluniversum schaffen, um die aus der osteuropäischen Heimat mitgebrachten chassidischen Kultur zu bewahren. Meschugge, schrieb die FAZ damals, versammle alle Motive Singers: „Die Spannung zwischen erotischem Vitalismus und traditioneller Moral, zwischen Willensfreiheit und Fatalismus, aufgeklärter Talmudgelehrsamkeit, jiddischer Dämonologie und chassidischer Emotionalität.“
Rabbiner-Dynastie
Väterlicherseits stammte Isaac Bashevis Singer aus einer chassidischen Rabbiner-Dynastie, einer seiner Vorfahren soll sogar Schüler des legendären Baal Shem Tov gewesen sein. Auch Singers Mutter Bathseba war Tochter eines Rabbiners, doch ihre Frömmigkeit unterschied sich deutlich von der mystischen Frömmigkeit ihres chassidischen Mannes. Ihr Rationalismus faszinierte ihren Sohn und beeinflusste sein Denken. Sein Leben lang pendelte er zwischen rationalistischen und frommen Welten. Bashevis, den Genitiv der jiddischen Version des mütterlichen Namens – Basheve, wählte er als Pseudonym bei seinen ersten Veröffentlichungen, später fügte er ihn als Mittelnamen ein.
Geboren 1904 (oder 1902, da streiten die Biografen) als Icek Hersz Zynger, wuchs Isaac Bashevis Singer zunächst in Rdazymin auf, wo sein Vater Pinchos Menachem Zynger am Hof eines chassidischen Rabbiners Arbeit fand. 1908 übersiedelte die Familie in die Warschauer Krochmalna-Straße, die er in seinem grandiosen Opus Magnum, dem tausendseitigen Generationenroman Die Familie Moschkat über die Vernichtung polnischen Judentums, zu einem der Hauptschauplätze machte. Gemeinsam mit Das Erbe und Das Landgut, den beiden anderen Teilen seiner epischen Trilogie, erzählt er darin mit wehmütigem Humor von polnisch-jüdischem Leben zwischen dem Aufstand gegen das zaristische Russland im Jahr 1863 einerseits und dem deutschen Einmarsch in Polen 1939. Singer war der literarische Archivar einer versunkenen, chassidischen Welt. In dieser zwischen Warschau, Wilna, Brody, Radzymin und Klein-Terschpol angesiedelten Trilogie erzählt er mit seinem so speziellen, wehmütigen Humor vom Auseinanderbrechen alter Familien, vom Verschwinden von Traditionen im grellen Licht einer neuen Zeit, von Hoffnungen, Intrigen, Lieben, von seelischen Verwerfungen. „Literatur“, sagte er einmal, „ist das Fenster zur Seele des Menschen.“
Pinchos Menachem Zynger, dem sein Sohn mit dem Buch Mein Vater, der Rabbi ein literarisches Denkmal setzen sollte, legte größten Wert auf eine streng religiöse, chassidische Erziehung seiner Kinder, hielt sie zum Studium der Thora, der Kabbala und anderer jüdischer Bücher an. Theaterbesuche waren verpönt, daheim gab es des Glaubens wegen weder Bilder noch Teppiche oder anderen Zierrat, selbst das ausgelassene Feiern zu Purim missbilligte der Vater. Seinen Sohn Isaac sei ein Atheist, klagte er, da er den Gotteszweifler Baruch Spinoza verehrte und wohl an Gott, nicht aber an jedes Dogma, erst recht nicht an eine absolute Wahrheit glaubte. Singer, der sich selbst als politisch konservativ einschätzte, fühlte sich keinem politischen System oder einer Partei zugehörig, aber trotz oder gerade wegen seiner Zweifel ausschließlich seinem jüdischen Glauben.
Singers Glaubensbekenntnis, so hieß es anlässlich seines hundertsten Geburtstags in einer Würdigung, sei das eines Mannes gewesen, der um das Undenkbare wusste und daran zweifelte, dass es sich überhaupt ausdrücken ließ. Dennoch studierte er ein paar Semester an einem fortschrittlich-orthodoxen Warschauer Rabbinerseminar, ehe er zu schreiben begann und schließlich am 19. April 1935, just einen Tag vor Hitlers Geburtstag, seinem Bruder Israel Joshua Singer nach Amerika folgte.
New York, diese Stadt „mit allen Anzeichen eines wildgewordenen Gehirns“ verwirrte und überforderte ihn, seine Eingewöhnungs- und Anpassungsschwierigkeiten in dieser lauten Stadt verarbeitete er in dem autobiografisch grundierten Roman Verloren in Amerika.
Singer selbst bezeichnete das Buch als „Fiktion vor dem Hintergrund von Wahrheit“. Es dauerte Jahre, bis der Kabbalist vom East Broadway (so der Titel eines Erzählbands) seine Lebens- und Schaffenskrise überwinden konnte. Genau genommen legte er nach einer siebenjährigen Schreibblockade seine literarischen Zukunftsabsichten fest: Ein jiddischer Schriftsteller in Amerika müsse zugunsten der Vergangenheit auf die Gegenwart verzichten. Er selbst könne nur über Osteuropa schreiben, wo sich die jiddische Sprache aus dem alltäglichen religiösen und weltlichen Leben speiste. Es sei, sagte sein Schriftstellerkollege Henry Miller (1891–1980) voll der Bewunderung, „eine wunderbare, wunderbare Welt, diese schrecklich schöne Welt von Isaac Bashevis Singer!“
1940 heiratete Singer die vor den Nazis aus Deutschland geflohene Alma Wassermann, geborene Haimann (1907–1996), 1943 bekam er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Berühmte, jüdische Schriftstellerkollegen übersetzten seine jiddischen Bücher ins Englische, darunter Saul Bellow den Erzählband Gimpel der Narr.
Isaac Bashevis Singer, der Kabbalist der zeitgenössischen Literatur, starb im Sommer 1991 in Florida.