Von Martin Engelberg
Es gibt gewichtige Stimmen, die den Islamismus als eine weitere Erscheinungsform der totalitären Ideologien und Regime des 20. Jahrhunderts ansehen und ihn nicht auf Fehler in der Politik der USA, des Westen insgesamt oder Israels zurückzuführen versuchen. Diese Position stellt den Islamismus in eine Reihe mit dem Nationalsozialismus und dem stalinistischen Terror. Dabei ist bemerkenswert, dass Psychoanalytiker, Politikwissenschafter und Kulturschaffende trotz ihrer unterschiedlichen Zugangsweisen zu ähnlichen Schlüssen kommen.
„Wunschdenken“ und „rationalistische Naivität“
Diese Position unterscheidet sich vorerst einmal gründlich von der im Westen nicht selten vorherrschenden Meinung, der Terror hätte seinen Ursprung in der Unterdrückung und Ausbeutung der Dritten Welt durch den Westen, er sei die Antwort auf das Bestreben vor allem der USA, die arabische Welt zu beherrschen, deren Öl zu rauben, eine Reaktion auf die Politik Israels usw. „Sind wir mit massiven, schrecklichen und scheinbar sinnlosen Zerstörungen konfrontiert, tendieren wir dazu, uns von unserem Horror und der Angst zu distanzieren, diese zu rationalisieren und uns sogar selbst mit einzubeziehen, indem wir eine Mitverantwortung übernehmen“, konstatierte Werner Bohleber, einer der führenden Psychoanalytiker Deutschlands, unlängst auf einer interdisziplinären Konferenz zum Thema „Terror, Gewalt und Gesellschaft“.
„So wichtig Selbstkritik ist, kann sie im Zusammenhang mit Terrorismus die Funktion haben, Gründe für einen offenbar sinnlosen Akt zu finden, um ihn in das eigene Denkschema einordnen und einen Sinn finden zu können.“ Paul Berman, einer der profiliertesten politischen Essayisten der USA, bezeichnet den Versuch vieler Europäer und Amerikaner, im Islamismus rationale Elemente zu finden, weil es so schwer vorstellbar ist, dass sich Millionen und Abermillionen von Menschen einer krankhaften politischen Bewegung verschreiben, dass Millionen von Menschen sinnlos den Freitod wählen, als „Wunschdenken“ und „rationalistische Naivität“. Er zeigt anhand von Beispielen, dass solche Versuche der rationalen Erklärung für blanken Wahnsinn in der Geschichte immer wieder vorgekommen sind: Die Behauptung, dass Stalin Millionen ukrainischer Bauern mit voller Absicht habe verhungern lassen oder dass er die Sklavenarbeit wieder eingeführt habe oder dass Stalin aus einer Laune heraus seine Anhänger und Genossen liquidierte – diese Behauptungen schienen so außergewöhnlich, so unwahrscheinlich, so unvereinbar mit den bekannten Zielen und zivilisierten Idealen der marxistischen Bewegung zu sein, dass es viel leichter war anzunehmen, dass Stalin, wie die Kommunisten argumentierten, von bürgerlichen Propagandisten, von rechtsgerichteten Manipulateuren und subversiven Trotzkisten verleumdet worden sei.
Selbst Hitler und die Nazis schafften es, bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der französischen Linken Verständnis für manche Argumente ihrer Propaganda zu finden, wie etwa dafür, dass Deutschland tatsächlich mit dem Friedensvertrag von Versailles ein Unrecht zugefügt worden sei, dass Deutsche, die in den slawischen Ländern im Osten lebten, tatsächlich schlecht behandelt würden und dass schließlich die Hetze gegen die Juden auch gute Gründe hätte.
„Es war ein Widerwille, manchmal sogar eine unverhohlene Weigerung, zu akzeptieren, dass politische Massenbewegungen sich von Zeit zu Zeit an der Idee des Hinmetzelns von Menschen berauschen. Es war der Glaube, dass Menschen auf der ganzen Welt bei der Verfolgung normaler und erkennbarer Interessen sich zwangsläufig mehr oder weniger vernünftig verhalten. Es war der Glaube, dass die Welt im Großen und Ganzen ein rationaler Ort sei“, zieht Berman die Parallele zu heute.
Totalitäre, mörderische Regime
Untersucht man den Islamismus im Hinblick auf gesicherte Erkenntnisse über das Entstehen und das Funktionieren irrationaler Massenbewegungen und totalitärer, mörderischer Regime, fallen die Gemeinsamkeiten sehr deutlich auf: Wie von Freud in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“ schon 1921 beschrieben, wird das eigene Gewissen und das Ich-Ideal suspendiert und der Führer der Masse oder eine leitende Idee an deren Stelle gesetzt. Für den Islamismus noch passender sind neuere psychoanalytische Gruppenforschungen, die besagen, dass die Gruppenphantasie nicht um ein Massenideal, einen Führer kreist, sondern um die Phantasie eines idealen Zustandes des Ichs, in dem eine symbiotische Beziehung mit dem Primärobjekt (z. B. der Mutter) illusionär wiederhergestellt wird.
Die Verbindung vom Konzept der „Reinheit“ mit jenem der Gruppenidentität wurde ebenfalls bereits von Freud beschrieben. Mitglieder einer Gruppe bringen individuelle Unterschiede zum Verschwinden. Sie versichern einander ihrer Gemeinsamkeiten und Identität, indem sie sich alle als Gleiche fühlen. Unterschiede und Anders-Sein erscheinen daher als unrein. Unsicherheit, Unbestimmtheit, Ambivalenz können nicht toleriert werden, müssen als etwas „Unreines“ ausradiert werden, um ein homogenes und konsistentes Universum zu schaffen.
Rituelle Reinheit ist im Islam und dementsprechend auch im Islamismus von größter Bedeutung. So war in einer der wichtigen politischen islamistischen Zeitungen zu lesen: „Der Islam und die Ungläubigen sind so wie frisches, klares Quellwasser und Wasser, das vom Untersten eines Kanals stammt. Wenn auch nur ein Tropfen dieses ekelhaften Wassers in das klare Wasser gerät, verschwindet die Klarheit. So genügt ein Tropfen des ekelhaften Ungläubigen, um den Islam zu verunreinigen.“ 1)
Erstaunliche Ähnlichkeiten
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass alle Untersuchungen den Ursprung des Islamismus und dessen Judenhass nicht im israelischpalästinensischen Konflikt, sondern in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts finden und ihn inspiriert sehen von den Ideen des europäischen Faschismus und dementsprechend verwandt.
Bin Laden selber wird mit seiner Aussage auf dem ersten, nach den 9/11-Anschlägen verbreiteten Video zitiert, in dem er erklärte, dass die islamische Nation über 80 Jahre lang Erniedrigung und Schande erleben musste. Damit bezog sich Bin Laden auf die Zeit um 1920, die Reformen Kemal Atatürks, das Ende des letzten Kalifats im Jahre 1924 und darauf folgend die Gründung der Muslimbruderschaft im Jahre 1928. Er und seine Gefolgsleute sehen diese historischen Geschehnisse als Teil einer westlichen und jüdischen Konspiration zur Dezimierung des Islams und der großen islamischen Nation an.
Der Islamismus ist, nach dem Faschismus und dem Bolschewismus, der dritte große Anlauf in der Geschichte, die Konsequenzen der Modernisierung, Säkularisierung und Liberalisierung, welche durch die Aufklärung in Gang gekommen sind, zu beseitigen.
Alle drei Bewegungen entstanden in der Zeit des Ersten Weltkriegs, in einer Zeit des Zusammenbruchs des idealistischen und liberalen Glaubens an den Fortschritt bei den europäischen Nationen und sie alle weisen deutliche Ähnlichkeiten auf:
- den Mythos einer idealisierten historischen Frühzeit, zu der eine Verbindung gesucht wird;
- die Animosität gegen den Westen, dessen Grundsätze im Gegensatz zu den eigenen stehend angesehen werden und die eigenen Werte zu korrumpieren drohen;
- das Ideal eines homogenen Ganzen, zu dessen Erreichung es unabdingbar ist, sich von allem Fremden zu säubern;
- einen Todeskult, im Rahmen dessen das Aufopfern für das Vaterland oder für die Religion als größtes Glück angesehen wird.
Islamismus und Judenhass
Sehr auffallend und gravierend ist die Verwandtschaft des Judenhasses der Nationalsozialisten mit dem unglaublich stark gewordenen Antisemitismus im Islamismus. Während Bohleber jedoch meint, dass Zweiterer nicht jene gespenstische Kraft des Antisemitismus der Nazi-Deutschen besäße, weist der deutsche Politikwissenschafter Matthias Küntzel die enge Verbindung von Islamismus und Judenhass, von den 20er Jahren bis heute, im Detail nach.
So sind islamistische Kampagnen schon in der Frühzeit (bis 1951) nicht antikolonial, sondern antijüdisch orientiert gewesen. Auch wurden die judenfeindlichen Passagen des Koran mit den antisemitischen Kampfformen des Dritten Reichs verknüpft und der Judenhass als Djihad ausagiert. Schon kurz nach dem Ende der Naziherrschaft provozierten die Muslimbrüder die größten antijüdischen Ausschreitungen der ägyptischen Geschichte und es kündigte sich bereits damals die Verschiebung des antisemitischen Zentrums von Deutschland in die arabische Welt an. Mit der islamischen Revolution im Iran im Jahr 1979 erlebte der Islamismus seinen großen Aufschwung. Wie eng dieser mit Antisemitismus verknüpft ist, zeigt die Charta der islamistischen Hamas, die im Jahre 1988, am Beginn der ersten Intifada, gegründet wurde. Die Hamas-Charta spricht ausdrücklich davon, dass der Djihad gegen Israel nur die erste Etappe eines weltweiten antijüdischen Vernichtungskrieges darstellt. In der Charta findet sich dann Folgendes: „Die Juden standen hinter der Französischen Revolution und hinter der kommunistischen Revolution.“ Sie standen „hinter dem Ersten Weltkrieg, um so das islamische Kaliphat auszuschalten … und standen auch hinter dem Zweiten Weltkrieg, in dem sie immense Vorteile aus dem Handel mit Kriegsmaterial zogen.“ Sie veranlassten „die Gründung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats, … um die Welt durch ihre Mittelsmänner zu beherrschen“. Und schlussendlich nennt die Charta in Artikel 32 sodann ihre Quelle: „Das Programm der Zionisten wurde in den Protokollen der Weisen von Zion ausgebreitet.“
In keinem – schon „nach Oslo“ – verfassten Schulbuch der palästinensischen Autonomiebehörde wird Auschwitz auch nur erwähnt. Der Vorsitzende des Erziehungskomitees des palästinensischen Parlaments erklärte: „Wir haben kein Interesse an Unterricht über den Holocaust.“ Dafür wurde von der Autonomiebehörde ausdrücklich die Verbreitung von Hitlers „Mein Kampf“ autorisiert. Das Buch rangierte 1999 auf der Bestsellerliste im palästinensischen Autonomiegebiet auf Platz sechs. 2)
Wie sollen sich liberale Demokratien angesichts totalitärer, menschenverachtender Systeme verhalten? Der französische Schriftsteller Pascal Bruckner konstatiert einen gravierenden Unterschied zwischen den USA und den Europäern: „Die Amerikaner haben sich für die freiheitliche Demokratie als das beste aller Systeme und nicht als Kompromiss entschieden und betrachteten die Demokratie auch weiterhin als einen ‚Traum‘.“ Sich selbst sehen sie als mit einer weltweiten Mission ausgestattet: die Freiheit zu verbreiten. Doch die Europäer sind mit anderen Gemütsverfassungen zu freiheitlichen Idealen gekommen. Sie sind auf der Suche nach Ruhe. Sie griffen diese Ideen auf, weil ihre anderen, aufregenden Ziele sie enttäuscht hatten.“
Paul Berman resümiert, dass die totalitären Bewegungen auch deshalb blühten, weil das Klima des modernen Lebens ihnen zu blühen erlaubte. „Um eine Situation zu erreichen, in der Nazis Europa erobert haben, braucht man dazu nicht nur die Nazis, sondern auch noch all die anderen rechten Bewegungen, welche die Nazis in einem freundlichen Licht sehen, und außerdem braucht man linke Gegner wie die Kriegsgegner unter den französischen Sozialisten, die nicht sehen können, dass Nazis Nazis sind.“ Berman schließt mit einem Aufruf an die westliche Welt, sich zu wappnen und einen „neuen Radikalismus“ zu entwickeln. Präsident Bush einerseits zu konzedieren, trotz all seiner sprachlichen Unzulänglichkeiten und seines fehlenden Schliffs einigermaßen fähig auf die Terroristenanschläge, zumindest im militärischen Bereich, reagiert zu haben, und ihm andererseits zuzusetzen, deutlicher zu erklären, was auf dem Spiel steht, und für die Menschen auf der ganzen Welt politische Lösungen anzubieten, die sonst vielleicht die Feinde des Westens würden. Die deutschen Pazifisten, die Franzosen, die Menschenrechtsorganisationenruft er auf, ebenfalls an dem Krieg gegen Terror und Totalitarismus teilzunehmen. Jeder auf seine Art – in einem lockeren Netzwerk, wie es Al-Qaida von sich behauptet.
1) Zitat Raban J., „My holy war“, The New Yorker, 4. Februar 2002
2) Küntzel N., Djihad und Judenhaß, ca-ira Verlag, Freiburg 2003