Seit 2013 ist Charlotte Herman engagierte und dynamische Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde Linz für das Bundesland Oberösterreich. Ihre jüdische Gemeinde ist wie eine große Familie.
Von René Wachtel
Gleich bei meinem Treffen mit Charlotte Herman werde ich Zeuge einer wichtigen Zeremonie: Auf dem Grundstück der IKG Linz in der Bethlehemstraße 26 wird eine Stele aus Messing mit einer Klingel aufgestellt. Es ist eine der von dem Künstler Andreas Strauss entworfenen Erinnerungsstelen, die vor Wohnungen und Häusern aufgestellt werden und die Namen der Jüdinnen und Juden tragen, die einst dort gewohnt haben, ehe sie während der Schoa vertrieben und ermordet wurden. Geplant sind insgesamt 19 Stelen, finanziert von der Stadt Linz (www.linzerinnert.at) Die Linzer wollten keine „Stolpersteine“ wie in anderen Städten, denn, so die Begründung, „da wird herumgetrampelt“. Vor allem die Metapher mit der Klingel hat auch Charlotte Herman auf Anhieb gefallen. Sie betont das gute Verhältnis sowohl zur Stadt als auch zum Land Oberösterreich: „Sowohl unter dem Altlandeshauptmann und Altbürgermeister als auch jetzt unter Landeshauptmann Thomas Stelzer und Bürgermeister Klaus Luger gibt es immer ein offenes Ohr für unsere Anliegen und Probleme. Sie wollen wirklich, dass es ein jüdisches Leben gibt und sind immer für uns da! Dass muss man sagen, das war auch schon in den 1960er Jahren so, wo sehr schnell unser Wunsch nach einer neuen Synagoge verstanden und auch hilfreich von allen Institutionen umgesetzt wurde.“
In Linz wurde schon 1968 eine neue Synagoge errichtet, die noch heute ein wirklich besonders edler Sakralbau ist. Charlotte Herman führt mich nach einem kurzen Rundgang durch den Garten der IKG in ihre Arbeitsräume im ersten Stock des Gemeindehauses – und zurück in die Geschichte der oberösterreichischen Juden, die über lange Zeit mit Ansiedlung, Vertreibung, Ansiedlung, Vertreibung und Ermordung verbunden war. Schon um 1100 wurden Judendörfer im alpinen Bereich erwähnt. Um 1200 wurden Judengemeinden in Linz, Steyr und Enns gegründet. Im Mittelalter kam es zu Zeiten der Kreuzzüge und Pestepidemien immer wieder auch zu Pogromen und Verfolgungen der Juden in Oberösterreich. 1420/21 wurden, wie auch in Wien, alle Juden vertrieben. Erst um 1500 durften Juden aus Böhmen wieder an den Markttagen nach Linz fahren. Doch erst nach dem Toleranzpatent von 1782 begann sich jüdisches Leben in Oberösterreich langsam zu etablieren. Nach der rechtlichen Gleichstellung der Juden in der Habsburger-Monarchie wurde 1870 die Israelitische Kultusgemeinde Linz-Urfahr gegründet und 1872 das Grundstück in der Bethlehemstraße 26 als Sitz der IKG Linz erworben. Damals begann die Blütezeit der jüdischen Gemeinde in Linz und Oberösterreich. 1876 wird Adolf Kurrein Rabbiner von Linz, im Jahr darauf wird die Synagoge in der Bethlehemstraße eingeweiht. Im Jahr 1923 lebten in Oberösterreich 1320 Juden (fast zwei Prozent der Gesamtbevölkerung), in der Schoa wurden 300 Juden aus Oberösterreich ermordet. 1945 kamen viele Juden, die aus Mauthausen und den Nebenlagern befreit worden waren, nach Linz. Die jüdische Gemeinde zählte damals etwa 12.000 Mitglieder. Am 6. Jänner 1946 wurde die Jüdische Kultusgemeinde Linz/Oberösterreich auch offiziell wieder gegründet, in den Räumlichkeiten in der Bethlehemstraße wurde ein provisorisches Bethaus eingerichtet. Auch Simon Wiesenthal war lange Zeit in Linz tätig. Bis 1965 war er geschäftsführender Vizepräsident der IKG und schon 1947 gründete er in Linz das jüdische Dokumentationszentrum. Nach diesem Ausflug in die Geschichte der Juden in Oberösterreich will ich von der Präsidentin wissen, wie es heute um ihre Gemeinde bestellt ist. „Wir sind eine sehr kleine Gemeinde mit rund sechzig Mitgliedern, die aber nicht nur in Linz leben. Wir haben Familien in Gmunden, in Freistadt und auch in Perg bei Mauthausen. Das macht die Arbeit für die Jüdische Gemeinde nicht einfach. Aber uns allen, die wir in der Kultusgemeinde engagiert sind, macht es unheimlich viel Freude. Wir schaffen es jeden Freitag Abend (ausgenommen im Sommer), auch einen schönen Gottesdienst mit Kiddusch zu organisieren.“ Früher, erzählt sie, gab es einen Vorbeter, einen ausgebildeten Bariton, der am Musiktheater in Linz tätig war und auch eine Kantorenausbildung hatte. Nun fungiert zu den hohen Feiertagen Peter Vassadi als Vorbeter. Er war einst aus Budapest nach Linz gekommen, lebt jetzt aber in Düsseldorf und kehrt zu den Feiertagen aus Verbundenheit nach Linz zurück. „Und seit 2019 haben wir einen ganz jungen Vorbeter aus Wien, David Gov Ari, erst 23 Jahre jung. Er kommt jeden Freitag Abend nach Linz und mit ihm haben wir wieder einen besonderen Vorbeter gefunden. Danke auch an den früheren Schammes von Wien, Rami Unger-Klein, der uns immer hilfreich bei allen Fragen in diesem Zusammenhang zur Verfügung gestanden ist.“
Zu den Feiertagen gibt es auch immer einen Kiddusch, zwar nicht von einem koscheren Caterer, „aber wir nennen es ‚koscher light‘, was wir hier in Linz haben“, lächelt sie und erzählt von den Pessachfeiern im Hotel, an die vierzig Menschen nehmen teil. „Es ist ein richtiges Familienfest. Da kommen auch Leute, die man sonst nicht sieht.“ Bei der Einweihung der Synagoge 1968 hielt Wiens Oberrabbiner Akiba Eisenberg einen feierlichen Gottesdienst ab, ebenso wie sein Sohn, Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg, nach der Restaurierung 2015. „Der neue Oberrabbiner von Wien, Jaron Engelmayer, war leider noch nicht da, aber daran war teilweise auch Corona schuld.“
Charlotte Herman hat vierzehn Jahre in Israel gelebt; nach dem ersten Golfkrieg kam sie mit ihrem Mann und den drei Kinder zurück nach Linz, wo sie sich sofort in der Gemeinde engagiert hat. Seit 2013 ist sie die Präsidentin. Neue Mitglieder zu bekommen ist schwer, eigentlich gehe das nur durch Zuwanderung. Es würden zwar Israelis in Linz und anderswo in Oberösterreich leben, aber nur wenige kommen dann auch zur IKG. „Wir haben seit kurzem eine nette israelische Familie mit zwei kleinen Kindern. Die Frau ist sehr engagiert, sie macht ehrenamtlich Führungen in der Synagoge.“ Bei den ukrainischen Juden, die derzeit von der IKG in Wien betreut werden, wisse man ja auch nicht, ob sie bleiben werden. Als besondere Höhepunkte ihrer Präsidentschaft nennt sie die Restaurierung, vor allem aber das fünfzigjährige Jubiläum der Synagoge im April 2018. „Aber eigentlich“, sagt sie, „gibt es immer Höhepunkte – so wie heute die Aufstellung der Stele auf unserem Grundstück. Und das muss ich auch sagen, seit einigen Jahren gibt es eine ungeheure Dynamik.“ Das Innenministerium stellt seit einigen Jahren die finanziellen Mittel für einen Sicherheitsdienst für Synagoge und Gemeindehaus, „das gibt uns ein Gefühl der Sicherheit. In Deutschland ist das anders, da wird die Sicherheit jüdischer Einrichtungen nicht von den Ländern gewährleistet, wie das Beispiel des versuchten Anschlages zu Yom Kippur vor drei Jahren zeigt, als ein Attentäter die Synagoge von Halle an der Saale stürmen und betende Juden töten wollte.“
Zur Dynamik zählt auch, dass der jüdische Friedhof in Linz bald fertig saniert sein wird. Und kürzlich wurde auf Initiative der Stadt Linz ein Platz in der Nähe des Gemeindezentrums nach Simon Wiesenthal benannt, erzählt Charlotte Herman, während sie mich durch das Gemeindehaus mit dem seinerzeitigen provisorischen Betsaal führt: „Das ist wie eine Zeitreise, es schaut noch genauso aus wie vor 75 Jahren. Wir haben nichts verändert.“ Nach einem Spaziergang durch den Garten und zur Synagoge besuchen wir den Simon-Wiesenthal-Platz. Auch IKG-Präsidentin Charlotte Herman sieht zum ersten Mal das Schild mit dem Namen Wiesenthals. Das, was sie gleich am Anfang unseres Gesprächs als ihren Leitsatz für ihre Arbeit und für die jüdische Gemeinde in Linz und Oberösterreich formuliert hat, sagt sie auch jetzt: „Wir sind da – am Yisrael chai.“
Architektonisches Kleinod
Bei einem Besuch der jüdischen Gemeinde in Linz wird man sofort auf ein architektonisches Kleinod aufmeksam: die alte Synagoge. Errichtet 1877 in der Bethlehemstraße auf dem offiziellen Grundstück der Kultusgemeinde, hat sie wie fast alle Synagogen und Bethäuser in Österreich die Reichsprogromnacht im November 1938 nicht überstanden. Sie wurde von den Nationalsozialisten niedergebrannt, die Inneneinrichtung teilweise ausgeraubt. Nach Ende des Krieges, und weil sich in Linz viele gestrandete und befreite Juden aus Mauthausen und den Nebenlagern befanden, wurde im Gemeindehaus ein provisorischer Gebetsraum errichtet. Dieser besteht noch heute und kann besichtigt werden. In den 1960er Jahren beschloss die Gemeinde, am Platz der alten Synagoge eine neue zu errichten. Die finanziellen Mittel wurden durch Stadt und Land Oberösterreich bereitgestellt, die Synagoge wurde 1968 feierlich eröffnet.
Man betritt also einen kompletten Neubau, der sich jedoch harmonisch in das Grundstück einfügt. Bereits nach wenigen Schritten durch den die Synagoge von der Straße trennenden Garten macht sich ein Gefühl von Ruhe bemerkbar, bis schließlich der Bau selbst sichtbar wird. Entworfen in kubischem Stil von Fritz Goffitzer, schreibt der Architekt: „Die einzelnen Gebäudeteile wurden entlang der ostwest-gerichteten Längsachse symmetrisch angeordnet. Um trotz der Kleinheit der Baumasse eine der Widmung des Gebäudes gemäße Überhöhung zu erreichen, habe ich den Bau auf ein mit Granitsteinen gepflastertes erhöhtes Plateau gestellt, das durch eine geschwungene Stützmauer begrenzt wird. Diese beiden Komponenten – Überhöhung und Begrenzung – entrücken den Bau aus der Profanwelt in eine neue Ebene, die einem Tempelbezirk gleichkommt. Diese Niveauverschiebung läßt den Bau optisch wesentlich größer erscheinen als er in Wirklichkeit ist“.