Mit Isaac Bashevis Singers „Der Scharlatan“ ist der sarkastische Roman des einzigen auf Jiddisch publizierenden Nobelpreisträgers in deutscher Übersetzung erschienen.
Von Michael Pekler
Wenn sich jemand nicht ständig über Gott und die Welt zu beschweren braucht, dann ist das Hertz Minsker. Andererseits hat man es als jüdischer Einwanderer Anfang der 1940er Jahre in New York auch nicht einfach. Vielleicht ist man gerade mit dem Leben davongekommen, liest die Zeitungsmeldungen über Hitler und Stalin, bangt um das Leben von zurückgelassenen Familienangehörigen und Freunden.
Allerdings quälen Minsker, Sohn eines polnischen Rabbiners, derartige Sorgen überhaupt nicht. Im Gegensatz zu seiner Frau Bronja, die wegen ihm Mann und Kinder in Warschau verlassen hat und nun Tag und Nacht vom schlechten Gewissen geplagt wird. Minsker hingegen hat anscheinend überhaupt kein Gewissen. Während Bronja in einer Fabrik für ein paar Dollar schuftet und nicht weiß, ob ihre Hilfspakete in Polen überhaupt ankommen, treibt sich Minsker in den Straßen und Cafés herum. Und zeigt wenig Interesse, sein kümmerliches Dasein zu verbessern, weil er dieses nicht als kümmerlich betrachtet. „Ich bin ein Scharlatan! Das weißt du doch, Moyschele!“, sagt er zu seinem besten – und einzigen – Freund Morris, von dem er sich regelmäßig Geld leiht. „Vergiss deine Narreteien. Werde Geschäftsmann wie alle anderen Juden“, belehrt ihn dieser, weil selbst reicher Immobilienhändler. „Du musst nur den ersten Schritt machen. Von Freud kannst du nicht leben. Für einen Ödipuskomplex kannst du dir gar nichts kaufen.“ Was Moyschele noch nicht weiß: Minsker schläft mit seiner Frau Minna.
Isaac Bashevis Singer (1902–1991) macht es einem in Der Scharlatan nicht gerade einfach, seinen 60-jährigen Protagonisten zu mögen – was auch daran liegt, dass dieser narzisstische Erotomane unverständlicherweise von allen gemocht und von den Frauen sogar regelrecht verfolgt wird. Neben Minna muss er die Avancen weiterer Damen – seiner verwitweten Haushälterin Bessie, an deren Séancen er teilnimmt, sowie von derem falschen „Geist“, der sich als die jüdisch-polnische Immigrantin Miriam herausstellt – abwehren. Er gilt als Intellektueller und Gelehrter, den man deshalb nicht zu verstehen braucht. Es heißt, er betreibe philosophische Studien („Humanforschung“), könne den gesamten Talmud auswendig und sei im Chassidismus „so zu Hause, dass er die Namen aller Rabbis vom Baalschem Tov bis zur Gegenwart“ wisse. In Wahrheit ist er das personifizierte Unvermögen, mit sich selbst ins Reine zu kommen.
Denn das Grauen in Europa begleitet ihn wie alle anderen bis nach New York, obwohl es ihn persönlich kaum belastet. Singer lässt es im Inneren seiner Figuren so richtig brodeln, zeichnet sie voller Schmerz, Verachtung, Scham und Selbsthass. Er sei „nicht besser als Hitler“, urteilt Minsker über sich selbst. „Sie sind selbst Nazis, alle, auch die Juden von heute“, meint wiederum Morris Calisher, wenn er sich, in seinem Stolz als Ehemann verletzt, wieder seines ursprünglichen Namens, Moses, und der Tora besinnt.
Der Scharlatan erschien als Fortsetzungsroman von Dezember 1967 bis Mai 1968 (sic!) unter dem Pseudonym Yitzkhok Varshavski in der jiddischen Tageszeitung Forverts und wurde erst 2017 auf Englisch in Buchform veröffentlicht. Im Nachwort zu der nun auf Deutsch vorliegenden Ausgabe erfährt man, dass Singer, der die englischen Übersetzungen seiner Texte aus dem Jiddischen stets selbst bearbeitete, auch das Typoskript zu The Charlatan noch eigenhändig mit Anmerkungen versah.
In ihrer Rezension beschwert sich deshalb die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass – obwohl von der renommierten Übersetzerin Christa Krüger übertragen – von Singers „elementarer Sprachgewalt“ im Deutschen nichts übrigbleibe. Nu, abgesehen davon, dass das Originalskript des einzigen auf Jiddisch publizierenden Nobelpreisträgers hier nicht zu Vergleichszwecken zur Verfügung steht, kämpft Der Scharlatan tatsächlich mit einer völlig anderen Schwierigkeit, wie es auch im jiddischen Original der Fall ist: dem erzählerischen Aufeinanderprallen von Holocaust in der Alten und Hedonismus in der Neuen Welt. Durch die theaterhafte Struktur des Romans, die sich in einer losen Abfolge von Szenen der Irrungen und Wirrungen bemerkbar macht, wirkt der Schatten der Zeitgeschichte, der auf die Figuren fällt, oft bloß wie jener eines Bühnenbilds aus dem Hintergrund.
Dessen ungeachtet ist die deutsche Übersetzung durch den Jüdischen Verlag von Suhrkamp – nach dem 2019 erschienenen und ebenfalls aus dem Nachlass stammenden Jarmy und Kaila – selbstverständlich vorbildlich.
Isaac Bashevis Singer
Der Scharlatan
Jüdischer Verlag Suhrkamp, 2021
396 S., EUR 25,70,–