Ein Jude, der die NSDAP finanziert. Ein Nazi-Propagandist, der behauptet, jüdische Witze seien für Arier unverständlich und der sie doch im Kampf gegen das Judentum einsetzen will. In seinem Buch „Vom jüdischen Witz zum Judenwitz“ analysiert Louis Kaplan die Ironien und Paradoxien der Geschichte des jüdischen Witzes und des Judenwitzes.
Von Tobias Lehmkuhl
Die Vermutung, dass sich der jüdische Witz von dem anderer Völker unterscheidet, ist nicht neu. Bereits 1810 gab Solomon Ascher ein Buch namens Der Judenfreund oder Auserlesene Anekdoten, Schwänke und Einfälle von den Kindern Israels heraus. Ein jüdisches Witzbuch aus napoleonischer Zeit also. Und wenn es Louis Kaplan, Professor für Geschichte und Theorie der Fotografie und Neuen Medien an der Universität Toronto, in seiner Studie über den jüdischen Witz konsequent vermeidet, aus seinem Gegenstand humoristisch Kapital zu schlagen, wollen wir doch eingangs ein Beispiel für ebendiesen Gegenstand anführen:
„Zwei polnische Juden verließen ihr Heimatdorf, um ihr Glück im Westen zu suchen. In Berlin angekommen, sagte der eine, er sei weit genug gefahren, doch der andere wollte weiter nach Paris. Da ihm dazu die Mittel fehlten, flehte er seinen Freund an, ihm hundert Mark zu leihen, und versprach, er würde sie mit Zinseszins zurückzahlen, sobald er sein erstes Geld verdiente. Es erübrigt sich zu sagen, dass er das Geld nicht zurücksandte, auch nicht ohne Zinsen. Zehn Jahre später wurde der, der in Berlin geblieben war, von seinem Dienstherrn nach Paris geschickt und staunte nicht schlecht, als er hörte, dass sein alter Freund ein sehr erfolgreicher Börsenmakler geworden war. Er ging also zu ihm und sagte: ‚Hör mal, Itzik, ich bin immer noch ein armer Mann, und du sollst sehr reich sein. Warum hast du mir meine hundert Mark nie zurückbezahlt?‘ ‚Quoi?‘ entrüstete sich der andere plötzlich auf Französisch. ‚Dir zurückzahlen? Erst müsst ihr Deutschen uns Alsace-Lorraine zurückgeben!‘“
Witze kamen freilich nicht erst 1810 ins Buch. Eines der Gründungsdokumente der europäischen Literatur ist das vor Witz geradezu platzende Werk des François Rabelais, Gargantua und Pantagruel. Diesem fünfbändigen Roman des frühen 16. Jahrhunderts widmete Michail Bachtin seine 1940 entstandene epochale Studie Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Sie ist neben Sigmund Freuds Abhandlung Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten die bedeutendste Arbeit über Funktionen und Ausformungen menschlicher Komik. Im Untertitel von Bachtins Studie, Volkskultur als Gegenkultur, klingt schon das subversive Element des Witzes an.
Nun liegt die Besonderheit des jüdischen Witzes gerade darin, dass er sich auf einer bestimmten Ebene gegen den Sprecher selbst richtet. Schon im 19. Jahrhundert hat man die Selbstironie als ein Alleinstellungsmerkmal des jüdischen Witzes ausgemacht, die Art und Weise, wie er vermeintliche jüdische Eigenheiten auf die Schippe nimmt. Das hat leider den Nachteil, dass es sich gegen den Witzerzähler selbst richten kann. Die jüdische Selbstironie wird in den Händen der Antisemiten zur Waffe.
Ernste Sache
„Witze und Propaganda wurden immer schon so begriffen, dass sie die strategische Sprache der Kriegsführung als zu mobilisierende Waffe einsetzen, und beiden ist hinsichtlich dessen, wie sie operieren und fluktuieren, eine bestimmte Art von Mobilität gemein. Für die Mobilisierung des jüdischen Witzes als totalitäre Propagandawaffe gelangte eine zweischneidige Strategie zur Anwendung: sie persiflierte und verspottete den jüdischen Feind und nahm den Witz gleichzeitig allzu ernst“, schreibt Kaplan und erzählt in sechs Kapiteln, in deren Mittelpunkt jeweils eine andere Person steht, von dieser Janusköpfigkeit des jüdischen Witzes.
Er beleuchtet, welche Rolle der Witz in den kulturellen Konflikten um jüdische Identität vor allem in den 1920er und 1930er Jahren gespielt hat. Sein Buch ist also alles andere als ein Witzbuch. Es macht überdies anschaulich, was für eine ernste Sache der jüdische Witz im 20. Jahrhundert mitunter war und auch heute noch sein kann. Kaplan zeigt unter anderem, wie die „Wendigkeit“ des jüdischen Witzes gegen den „geradlinigen“ deutschen Humor ausgespielt wurde. Bevor jedoch die Nazis die Selbstironie des jüdischen Witzes in ihrem Sinne instrumentalisierten, erkannten jüdische Intellektuelle die Gefahr, die im jüdischen Witz lag.
Kaplan geht ausführlich auf einen Disput ein, der sich um Aufführungen im „Kabarett der Komiker“ Mitte der 1920er Jahre entspann. Im Mittelpunkt dieses Disputs steht Alfred Wiener. Er war Funktionär des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der größten, 1893 gegründeten jüdischen Schutzorganisation jener Zeit. In einem Artikel, der 1925 in der Zeitung des Centralvereins erschien, griff er die jüdischen Kabarettisten in Berlin scharf an, insbesondere das Kabarett der Komiker (KadeKo), wo auch die erste Hitler-Parodie auf einer Bühne zu sehen war: „Der KadeKo-Humor war für seine Unverschämtheit bekannt, sie schlug in beide Richtungen aus und verschonte niemanden. Insofern verkörperte Kurt Robitschek den Gesetzlosen unter den Komikern, dessen freches, unverfrorenes und respektloses Verhalten auf der Jagd nach einem Lacher auch vor der Diffamierung des jüdischen Charakters nicht Halt machte und der deshalb unter genauer Beobachtung durch den Centralverein stand“, analysiert Kaplan.
Antisemitische Selbstironie?
Alfred Wieners Ansicht nach schlug die jüdische Selbstironie in den Berliner Kabaretts allzu häufig und deutlich in Selbsthass um. Im darauffolgenden Frühjahr rief der Centralverein sogar zu zwei Demonstrationen gegen die jüdische Kabarettkultur auf. In seiner Analyse macht Louis Kaplan deutlich, wie schmal der Grat zwischen jüdischer Selbstironie und Antisemitismus ist. Sie sind, so Kaplan, zwei Seiten derselben Medaille. Der jüdische Witz ist, anders formuliert, seinem Wesen nach ambivalent. Würde er nicht das gegen sich selbst gerichtete, also das antisemitische Element in sich tragen, wäre er kein jüdischer Witz.
Wie ein jüdischer Witz klingt auch die Geschichte des Antisemiten Arthur Trebitsch, auf die Kaplan in einem eigenen Kapitel eingeht. Als Sohn eines reichen jüdischen Seidenhändlers in Wien geboren, musste er sich zeitlebens keine Sorgen ums Geld machen und konnte am laufenden Band antisemitische Pamphlete verfassen, mehr noch, er besaß genug Vermögen, um die NSDAP in ihren Anfängen finanziell zu unterstützen und damit einen Teil zu ihrem Aufstieg beizutragen. Hitler spielte sogar mit dem Gedanken, Trebitsch zum Chefideologen der Partei zu machen. In seiner Schrift Geist und Judentum geht Trebitsch ausführlich auf den jüdischen Witz ein. Er sieht in ihm ein Täuschungs- und Ablenkungsmanöver, das das wahre Selbst der Juden zu verbergen suche. Den Juden gefalle die linguistische Verdrehung der Dinge. Dem Arier dagegen stünden die dinglichen Verschiedenheiten vor Augen. Klangliche Ähnlichkeiten würden ihm unverständlich bleiben. Louis Kaplan analysiert scharfsinnig: „Trebitsch stellt den ‚sekundären Geist‘ des ‚Judenwitzes‘ dem ‚primären‘ des deutschen Humors gegenüber. Aber wenn Nichtjuden ohnehin nicht in der Lage sind, die Komik des jüdischen Witzes zu verstehen, beginnt man sich zu fragen, an wen sich Trebitsch mit seiner Analyse des jüdischen Witzes eigentlich wendet?“
Arthur Trebitsch, als antisemitischer Jude selbst eine paradoxe Figur, versucht – paradoxerweise – zum wahren Kern des jüdischen Witzes vorzudringen, ihn also konsequent ernst zu nehmen. Gäbe es diesen wahren Kern, wäre der Witz allerdings kein Witz mehr, spielt er doch, wie Kaplan schreibt, mit der konjunktivischen Möglichkeit radikaler und kontraintuitiver Umkehrung.
Den Widerspruch leben
Witze allerdings werden nicht nur erzählt oder in Witzsammlungen nachgelesen, auch Karikaturen gehören in den Bereich des Witzes. Das visuelle Element verleiht ihnen eine zusätzliche Ebene. Louis Kaplans Buch sind zahlreiche Abbildungen beigegeben, darunter etwa die Zeichnung eines Juden im Bade. Sie illustriert folgenden Witz:
„Das Jahr war um, Barches besuchte wieder die Badeanstalt, um ein Wannenbad im gemeinschaftlichen Baderaume zu nehmen. In der Wanne nebenan saß ein blonder Hüne, die typische Erscheinung des nationalen Mannes, der ein unsichtbares Hakenkreuz auf der Stirn trägt. Schüchtern und angstvoll saß Barches in seiner Wanne. Kein Wort wagte er zu sprechen, um ja nur keinen Pogrom hervorzurufen. Da erhebt sich der Blonde in seiner ganzen stattlichen Größe. Barches’ Blick streift an seiner Gestalt entlang, plötzlich erhellen sich seine Züge und freudig fragt er den anderen: ‚Sagen Sie, wann haben wir heuer Versöhnungstag?‘“
Welche Rolle Witze, oder vielmehr das gehässige und aggressive Lachen, für die NS-Propaganda spielten, macht Louis Kaplan in seinem Buch anhand des Propagandisten Siegfried Kadner und seines Werks über Rasse und Humor deutlich. Kaplan zitiert Goebbels, der der Überzeugung war, dass man die Lacher auf seine Seite ziehen muss, um den Kampf um die Deutungshoheit zu gewinnen, und nicht nur den. Lacht ihn tot heißt gar ein 1937 erschienenes Buch des Karikaturisten Walter Hoffmann. Auf dem Titelblatt sieht man einen hakennasigen Alten in schwarzem Umhang, der von vier identischen jungen Männern mit weit aufgerissenen Mündern ausgelacht wird. Wollte man wirklich so tun, als gäbe es einen jüdischen und einen deutschen Humor und ließen sich beide sauber voneinander trennen, so könnte sich jeder aussuchen: Mit dem jüdischen Witz über sich selbst lachen oder mit dem deutschen Witz über andere lachen.
Siegfried Kadner nun würde behaupten, es gäbe gar keinen deutschen Witz, sondern nur deutschen Humor. Witz und Satire seien geistige Konstruktionen, reine Geistesgymnastik, die dem gesunden, geraden, dem körperlichen und ehrlichen Deutschen denkbar fern lägen. Im jüdischen Witz meint er alles Falsche und Krumme des jüdischen Wesens zu erkennen. Gleichzeitig schätzt er den jüdischen Witz, denn die wirksamsten Judenwitze, so Kadner, stammten von Juden selbst. Einerseits also seien Judenwitze nicht witzig, andererseits funktionierten sie hervorragend, um sie gegen die Juden einzusetzen.
„Die Paradoxie vom ‚Feindhelfer‘ erinnert an die absurde Logik jüdischer Witze und ihre radikale Inversion. Ein Beispiel: Zwei Juden sitzen im Restaurant und beide bestellen Forelle. Als das Essen serviert wird, nimmt sich der eine die größere Portion und überlässt dem Freund die kleinere. Als dieser sich beschwert, dass das doch unhöflich sei und dass er, wenn er aufgetragen hätte, sich die kleinere Portion genommen hätte, erwidert der andere, er habe sie doch jetzt auf dem Teller und warum er sich beschwere. So wird eine unhöfliche oder auch ungerechte Handlung verdreht (und herangezogen) und als das präsentiert, was das Opfer ohnehin immer schon wollte.“
Gleichwohl, muss man hinzufügen, gab es unter den Nazis sicher niemanden, der sich für diese Feststellung interessiert hätte. Ziel war es schließlich, „als Letzter zu lachen“, bzw. darauf hinzuarbeiten, dass das Judentum „nichts mehr zu lachen hat“, wie Goebbels zwei Monate nach der Wannsee-Konferenz in sein Tagebuch notiert.
Damit endet allerdings die Geschichte nicht. Es gibt noch ein Nachleben des jüdischen Witzes in Deutschland, das Kaplan überaus spannend im letzten Kapitel seines Buches darstellt und untersucht. Zwar lebten, schreibt er, nach dem Holocaust kaum noch Juden in Deutschland. Jüdische Witze und Witzbücher aber wurden zum Austragungsort und Blitzableiter, um die Problematik der deutsch-jüdischen kulturellen Erinnerung und die Komplexitäten von Philo- und Antisemitismus auszuspielen.
Als Beispiel dient ihm das 1960 von Salcia Landmann zusammengestellte Witzbuch Der jüdische Witz. Es war ein großer Verkaufserfolg, über eine halbe Million Exemplare wurden in den ersten zehn Jahren verkauft, Neuauflagen wurden immerzu um neue, von den Lesern zugesandte Witze erweitert.
Auslöschung einer Kultur
Worin lag dieser Erfolg begründet? Bot das Buch einen „Augenblick der befreienden Komik“, wie ihn sich Wohlmeinende erhofften? Oder wurde mit seiner Hilfe so etwas wie Trauerarbeit geleistet? An dieser Stelle erkennt Kaplan einmal mehr die Janusköpfigkeit des jüdischen Witzes: Er könnte zur Trauerarbeit beitragen, sie gleichzeitig aber auch zu einem Witz machen. Wie eng Lachen und Trauer miteinander verbunden sind, macht er anhand einer Szene aus James Joyce’ Finnegans Wake deutlich.
Was er jedoch nicht thematisiert, und das bildet den einzigen blinden Fleck in seiner vielschichtigen Analyse, ist die Frage, was eigentlich betrauert wird: Der Tod von sechs Millionen Menschen? Die Auslöschung der jüdischen Kultur in Deutschland, die über Jahrhunderte eben auch Teil der deutschen Kultur war? Oder wird gar der Verlust des jüdischen Witzes selbst betrauert und halten wir mit Landmanns Anthologie eine Sammlung von Witzleichen in der Hand, die uns bewusst macht, dass es keine Nachkommen, keine neuen Witze mehr gibt, dass wir also in einer witzarmen, ja witzlosen Zeit leben?
Was Salcia Landmanns Witzbuch betrifft, so war der Erfolg nicht nur beim Publikum, sondern auch bei der Kritik überwältigend. Mit einer Ausnahme: der österreichische Autor Friedrich Torberg, selbst Jude, schrieb, man könne nicht jedes Buch, nur weil es von einem Juden stamme, automatisch für gut befinden: „Gott erhalte den Deutschen ihre Verkrampfung, eh daß sie sich mit Hilfe dieses Buches löse! Denn es wäre eine höchst unheilvolle und ihrerseits verkrampfte Lösung. Der Krampf besteht in einem völlig mißverstandenen, wenn auch den edelsten Motiven entsprungenen Bedürfnis, eine ‚geistige Wiedergutmachung‘ zu leisten, die es offenbar nicht zuläßt, ein Buch schlecht zu finden, wenn es von einem Juden, einem Emigranten oder antinazistischen Widerständler verfaßt ist oder wenn es (selbstverständlich auf ‚positive‘ Art) einem der drei entsprechenden Themenkreise angehört. Im vollen Bewußtsein meines avantgardistischen Risikos wage ich zu behaupten, daß auch das Buch eines Juden, eines Emigranten oder eines Antinazis schlecht sein kann.“
Und in der Tat fand Torberg das Buch von Landmann schlecht, die Witze schlecht erzählt. Ja, es ist bezeichnenderweise gerade ein Witz über einen Trauerredner und seine Bezahlung, der seinen kritischen Widerstand hervorruft, denn für Torberg betreibt auch Landmann ein fragwürdiges „Schoah-Geschäft“, das, so Kaplan, aus der politischen Ökonomie jüdischer Witzreparationen unverdientermaßen Kapital schlägt.
Dass sich die Geschichte des jüdischen Witzes bis heute wiederholt, sei es die jüdische Kritik am Judenwitz, sei es seine antisemitische Ausbeutung, zeigt Louis Kaplan in einem kurzen Epilog anhand von Shitstorm hervorrufenden Comedyauftritten des Seinfeld-Autors Larry David oder mit Bezug auf den amerikanischen Daily Stormer und die Alt-Right-Bewegung. Das vom Judenwitz ausgehende Erregungspotenzial lässt sich – etwa im Hinblick auf die Debatte um die Komikerin Lisa Eckhart – auch hierzulande beobachten.
Kaplans Buch schärft den Blick für die Absurditäten in der Geschichte des jüdischen Witzes und dafür, welchen Sprengstoff er birgt. Diese Geschichte kommt einem bei der Lektüre nicht selten selbst wie ein durchaus erhellender Witz vor. Wie schon Goethe in Bezug auf Lichtenberg sagte: „Wo er einen Spaß macht, liegt ein Problem verborgen.“
Erstveröffentlicht in einem Feature für Deutschlandfunk.
Louis Kaplan
Vom jüdischen Witz zum Judenwitz. Eine Kunst wird entwendet
Aus dem amerikanischen Englisch von Jacqueline Csuss
Die Andere Bibliothek, 2021
300 S., 44,-