Das Jüdische Filmfestival Wien präsentiert im Oktober zum 30-jährigen Jubiläum ein dichtes Programm mit historischen und aktuellen Arbeiten. Eine Vorschau.
Von Michael Pekler
Simone Segre führt ein Leben, von dem die meisten, die am liebsten allein sein wollen, nur träumen können. Segre ist ein angesehener Chirurg aus Triest und lebt in einer Altstadtwohnung, in der man sich zwischen Arbeitszimmer und Salon verirrt. Geld spielt für ihn keine Rolle, weil er genug davon hat. Nach wichtigen Operationen setzt sich der Mittfünfziger tiefenentspannt in sein Kajak, als ob ihn der Rest der Welt nichts anginge. Bis es eines Tages auf der Landstraße neben dem Kanal, in dem er paddelt, kracht: ein Autounfall mit Fahrerflucht, der Verletzte braucht notärztliche Hilfe, die Simone leisten könnte. Was er nicht tut, denn das SS-Zeichen auf dem Arm und ein Hakenkreuz auf der Brust des Opfers wiegen schwerer als der hippokratische Eid.
Non odiare (Thou Shalt Not Hate) von Mauro Mancini, den das Jüdische Filmfestival als Österreichpremiere präsentiert, ist ein Film über einen Mann, der mit sich selbst im Streit liegt. Der italienische Starschauspieler Alessandro Gassmann spielt den jüdischen Arzt, den weniger Gewissensbisse plagen – das wäre die vordergründige Lesart – als die Frage nach der moralischen Rechtmäßigkeit. Segre ist verunsichert, sucht den Kontakt zu der in ärmlichen Verhältnissen lebenden Familie des Toten, und hier vor allem zu Marica, der ältesten Tochter, der er mit einem Jobangebot helfen möchte. Der Kontakt zum Teenager Marcello, wie sein Vater überzeugter Neonazi, ergibt sich dadurch zwangsläufig. Mit fatalen Folgen.
Ein solches Szenario mag nicht gerade dem Alltag entnommen sein – wiewohl es an den realen Fall des jüdischen Chirurgen aus Paderborn erinnert, der einen Eingriff bei einem Mann mit Hakenkreuz-Tattoo rechtens verweigerte –, ist als Erzählung mit eindeutiger Absicht aber bestens als Kinostoff geeignet. Weshalb Non odiare auch einwandfrei zu einer ganzen Reihe von Arbeiten passt, die im Rahmen des Festivals die verschiedenen Formen von gegenwärtigem Antisemitismus untersuchen. Denn dieser sei, so Festivalleiter Frédéric-Gérard Kaczek, seit der Festivalgründung vor dreißig Jahren nicht weniger geworden. Im Gegenteil müsse man, die aktuelle Situation vor Augen, von einer ernüchternden Bestandsaufnahme sprechen. Dass für eine solche nicht nur Spielfilme, sondern vor allem auch dokumentarische Arbeiten in Frage kommen, versteht sich von selbst. Politologinnen und Historiker setzen mit begleitenden Vorträgen die nötigen wissenschaftlichen Akzente für Diskussionen.
Eröffnet wird mit der französischen Sozialkomödie Alles außer gewöhnlich. Hingewiesen sei aber vor allem auf den Programmschwerpunkt „Blick nach Osten“, der dem Titel entsprechend historische und aktuelle Filme präsentiert, die sich dem jüdischen Widerstand gegen den Naziterror in Osteuropa, vor allem in den baltischen Ländern und in Polen, widmen. In Liza ruft! (2018) dokumentiert Christian Carlsen die Geschichte der litauischen Partisanin Fania Brantsovskaya, die aus dem Ghetto von Vilnius entkommen konnte, sich zunächst dem Widerstand und schließlich der Roten Armee bei der Befreiung der Stadt anschloss. Was nach dem Krieg im Ausland für Anerkennung sorgte, brachte Brantsovskaya in ihrer Heimat Anfeindungen von antisemitischen und nationalistischen Gruppierungen ein.
Ebenfalls empfohlen sei der international akklamierte Four Winters (2020), in dem Julia Mintz den Kampf tausender Jüdinnen und Juden dokumentiert, die in den Wäldern Osteuropas gegen die Nazis und ihre Kollaborateure kämpften: Jeder in die Luft gesprengte Waggon und jeder zerstörte Strommast waren ein Erfolg – und ein Zeichen der Hoffnung.
Jüdisches Filmfestival Wien
3.–17.10.