Er überlebte die NS-Zeit in Budapest, gab das Klavierstudium seinem Vater zuliebe auf und studierte stattdessen Chemie. Nebenbei wurde er zum wichtigsten Kulturmanager Österreichs: Hans Landesmann, Jahrgang 1932, im Interview über sein Leben zwischen Fleischgroßhandel und zeitgenössischer Musik.
Von Thomas Trenkler (Interview) und Rita Newman (Fotos)
NU: Sie wurden am 1. März 1932 geboren. Können Sie sich noch an Ihre Kindheit in Wien erinnern?
Landesmann: Punktuell. Ich kann mich wohl nur deshalb daran erinnern, weil ich mit meinem Bruder, der zwei Jahre älter ist, und mit meinen Eltern darüber gesprochen habe. Es war jedenfalls eine sehr schöne Zeit. Nach dem Kindergarten, als ich sechs Jahre alt war, mussten wir weg. In Budapest lastete sofort ein riesiger Druck auf mir. Denn ich sprach nur Deutsch, eigentlich Wienerisch. Ich musste daher sofort Ungarisch lernen, damit ich in die Schule gehen konnte.
Ihre Eltern kamen aus Ungarn …
Ja. Mein Vater wurde eigentlich im Gebiet der heutigen Ukraine geboren. Er war im Ersten Weltkrieg als Kriegsgefangener in Sibirien, er hat dort Russisch gelernt, 1919 ist er zurückgekehrt. Das Unternehmen meines Großvaters in Budapest hieß „Alexander Landesmann und Söhne“. Der Name änderte sich mehrfach, aber immer mit „Landesmann“. 1920 gab es einen Familienrat. Der Großvater hatte vier Söhne. Und ein bisschen so wie die Rothschilds – im winzigen Maßstab – haben sich die Söhne die ehemaligen Länder der Monarchie aufgeteilt: Mein Vater wurde nach Wien geschickt, um dort eine Niederlassung zu gründen, einer meiner Onkel ging nach Prag, und die beiden anderen Onkel kümmerten sich in Österreich beziehungsweise in Ungarn um die Landwirtschaften. So entstand eine Art Konzern. Mit Viehhandel. Denn damals gab es noch keine Automobile, die Fleisch gekühlt transportieren konnten. Mein Vater eröffnete sein Büro in St. Marx – und es ist losgegangen. Schon mein Bruder wurde in Wien geboren.
Haben Ihre Eltern 1938 die drohende Gefahr erkannt?
Meine Eltern haben heftig gestritten: Meine Mutter war die Präsidentin der jüdischen Frauenvereinigung, sie wollte natürlich nach Palästina. Aber mein Vater wollte zurück nach Budapest: dort war die Firma, dort waren die Verwandten. Er hat sich durchgesetzt. Leider, muss ich sagen. Weil Budapest während der Nazizeit kein Honiglecken war.
Obwohl es noch keine Judenverfolgungen gab.
Es gab zwar schon eine Art Naziherrschaft davor, die unangenehm war, aber erst dann ist es wirklich ernst geworden. Meine Mutter starb im April 1944 an Krebs. Wir trugen den gelben Stern, im Juni mussten wir aus unserer Wohnung. Die Deportationen begannen, aber zuerst in der Provinz. Doch dann – das war am 15. Oktober – hat eine Rechts-Rechts- Partei die Macht übernommen. Von da an war man wirklich in Lebensgefahr. Die Juden wurden im Ghetto zusammengetrieben, viele wurden erschossen. Die Botschaften der neutralen Länder wie die Schweiz, die USA, Costa Rica und auch der Vatikan haben mit den Deutschen geschützte Häuser ausgehandelt. Wir waren in einem schwedischen Haus untergebracht, hatten schwedische Papiere. Aber dann hielt dieses Abkommen nicht mehr. Mein Vater war im Arbeitslager. Und da haben wir uns, mein Bruder und ich, selbständig gemacht. Mein Vater hatte uns gesagt, dass wir uns an Salesianer- Priester wenden sollen. Und die haben uns in ihrem Kloster aufgenommen. Es sprach sich natürlich herum, dass dort jüdische Kinder versteckt werden. Schon bald haben wir uns nicht sicher gefühlt und sind weg – gerade rechtzeitig. Man hat uns dann in verschiedenen Häusern versteckt. Und zum Schluss sind wir in dieses jetzt berühmt gewordene „Gläserne Haus“ geflüchtet. Das stand unter Schweizer Protektorat. Mein Vater war schon dort. Und dort haben wir die Befreiung miterlebt.
Zu Kriegsende waren Sie erst 13 Jahre alt. In dauernder Lebensgefahr zu sein: Wie gingen Sie damit um?
Ich erzähle Ihnen eine kleine Anekdote. Mein Cousin, der viel älter war, sagte zu mir: „Du wirst bald in die Seifenfabrik kommen.“ Ich war ziemlich reinlich und daher sagte ich: „Na ja, das ist gar nicht so schlecht.“ Er klärte mich auf: „Nein, aus Dir wird Seife!“ Von diesem Moment an hatte ich Angst. Davor war das Herumziehen mit meinem Bruder ohne elterliche Aufsicht eher ein Abenteuer.
Haben Sie sich gefragt, warum man Ihnen nach dem Leben trachtet?
Unser Vater hat uns erklärt: Wenn es den Leuten schlecht geht, behauptet die Regierung immer, dass die Juden schuld seien. Das haben wir verstanden. Denn wir gehörten zu den Bessersituierten. Wir haben den Antisemitismus auf Neid zurückgeführt.
Dem „Falter“ erzählten Sie, dass man in Ihrer Familie nicht mehr Deutsch gesprochen habe.
Ja, wir haben uns von den Deutschen abgewandt. Ich war nicht mehr bereit, Deutsch zu sprechen. Was natürlich ein Blödsinn war. Denn dadurch verlernte ich die Sprache und musste sie, 1946 zurück in Wien, wieder neu lernen. Aber wir haben versucht, das von der Kultur zu trennen, die in unserer Familie einen sehr hohen Stellenwert hatte. Wir haben daher weiterhin die Musik deutscher Komponisten gehört und die Bücher deutscher Autoren gelesen.
Bereits mit sechs Jahren haben Sie Klavier zu spielen begonnen. War das Ihr Wunsch – oder der Ihrer Eltern?
Es der Wunsch meiner Mutter, dass wir Klavier lernen. Aber wir wurden nicht gezwungen: Es gab eben eine Klavierlehrerin, die ins Haus gekommen ist.
Sie hätten sich vorstellen können, als Musiker Karriere zu machen?
Absolut, ich wollte das! In Wien ging ich gleich auf die Hochschule. Aber mein Vater hat gesagt, ich müsse zuerst einen bürgerlichen Beruf erlernen, dann könne ich so viel Klavier spielen, wie ich will. Er war sehr intelligent und hat daher genau gewusst: Wenn ich einmal weg bin vom Klavier, dann wird es nie mehr ernsthaft. So hab ich das Studium aufgegeben.
Und sich einer ganz anderen Materie zugewandt. Warum Chemie?
Mein Vater sagte, ich soll mir einen Beruf aussuchen. Ihm war egal, welcher. Ich hatte in der Schule Chemie, Mathematik und Physik sehr gerne. Und ich hörte damals, dass Chemiker gesucht werden, dass Chemie in der Zukunft sehr wichtig wird.
Sie wollten also gar nicht in den väterlichen Betrieb einsteigen?
Nein. Mein Vater wollte das auch nicht. Er sagte: Einer genügt, das ist der Peter, mein Bruder. Ich sollte etwas Ordentliches lernen. Ich hab zuerst in London studiert, dann an der Sorbonne in Paris und zum Schluss an der Columbia University in New York. Ich bin erst 1957 in die Firma eingetreten. Mein Vater starb im Februar ganz plötzlich – an einem Herzinfarkt. Ich unterrichtete damals schon, aber mein Bruder meinte, ich soll für ein Jahr nach Wien zurückkommen. Meine Frau blieb zunächst in Amerika.
Sie hatten sie auf der Universität kennengelernt?
Ja. Elaine war Sekretärin in der Abteilung, in der ich arbeitete. Sie studierte französische Literatur.
Ich nehme an, die Firma war 1938 beschlagnahmt worden. Es gab wohl einen Sachverwalter oder Ariseur.
Ja. Sonderbar: Er war Musiker. Ein Kapellmeister, Schmied hat er geheißen. Er hat auch unsere Wohnung beschlagnahmt. Gleich nach dem Krieg – fast zeitgleich mit den Russen – kam mein Vater zurück nach Wien. Er wollte ihn aus der Wohnung schmeißen. Doch dessen Frau war krank und bat darum, ob sie nicht in einem Zimmer bleiben dürften. Mein Vater hat das, weichherzig, erlaubt. Trotzdem hat der Nazi uns auf Wohnbesitzraub geklagt – und gewonnen. Wir müssten innerhalb kürzester Zeit aus der Wohnung.
Sie wurden also auch in der Zweiten Republik vertrieben?
Ja. Man hat uns rausgehaut. Es war eine wunderschöne Mietwohnung, Esteplatz 5. Später hatte der Nazi kein Geld, um die Miete zu bezahlen. Der Hauseigentümer, die Anglo-Elementar, hat ihm gekündigt und bot uns die Wohnung an. Aber wir hatten natürlich schon eine neue. Das war also meine erste Erfahrung mit dem neuen Österreich. Ich wollte sobald als möglich weg.
Und trotzdem sind Sie 1957 zurück nach Wien gekommen.
Das war eine echte Überwindung für mich. Ich habe meinen damaligen Beruf ja geliebt. Aber in Wien waren mein Bruder und die Familie, der Betrieb war zu leiten. Meine Frau hat sich gut eingelebt, und so sind wir geblieben.
Ein prägendes Erlebnis für Sie war, als Sie in Budapest Yehudi Menuhin hörten.
Damals, im Frühjahr 1945, herrschte noch Kriegszustand. Ich sah ein Plakat mit dem Namen Yehudi Menuhin, schaute aber nicht näher hin. Ich dachte, das war eine Ankündigung für eine Schallplatte. Und dann fragte mich ein Freund, ob auch ich mir das Konzert in der Musikakademie anhören werde. Natürlich bin ich hingegangen. Menuhin war der erste große ausländische Künstler, den ich hörte. Es war überwältigend.
Ihre Salzburger Zeit – Sie waren Konzertchef und kaufmännischer Direktor – begann erst 1989. Als Musikmanager sind Sie aber bereits seit 1964 aktiv. Wie kam es dazu?
Die Frau von Peter Weiser war eine gute Freundin und Arbeitskollegin meiner Frau. Er war Generalsekretär des Konzerthauses und suchte junge Direktoriumsmitglieder. Er lud mich ein. So bin ich eben in die Musikwelt eingestiegen.
Sie folgten Peter Weiser von 1977 bis 1984 als Generalsekretär nach. Es sei nicht so schwer gewesen, beide Jobs parallel auszuüben, sagten Sie einmal: Der Fleischhandel sei ein Frühgeschäft, im Kulturbetrieb ist vor zehn nicht viel los. Wie funktionierte die Zusammenarbeit mit Ihrem Bruder?
Problemlos. Am Anfang war mein Bruder mein Lehrmeister, weil ich keine Ahnung vom Geschäft hatte. Später haben wir die Geschäftsbereiche aufgeteilt. Mein Vater hatte 1932 in Niederösterreich nahe der Grenze zum Burgenland eine große Hühner- und Entenfarm gekauft. Sie wurde zweimal enteignet: nicht nur 1938 von den Nazis, sondern auch 1945 von den Russen. Mein Vater war in der Nachkriegszeit Verwalter – auf seinem eigenen Gutsbetrieb. Heute ist der Betrieb verpachtet. Jedenfalls: Mein Bruder hat die Landwirtschaft und den Verkauf betreut, ich habe mich mit den Finanzen beschäftigt. Wir haben eine fantastische Zusammenarbeit – seit nun schon fast 53 Jahren. Es gab nie einen Streit.
Auch in strategischen Fragen waren Sie immer einer Meinung?
Er war und ist das Lenkrad, ich die Bremse. Mitunter habe ich ihn schon ein bisschen einbremsen müssen. Er war immer voll Tatendrang. Und ich war eher der Vorsichtige.
Was hat Ihnen mehr Freude gemacht: im Familienbetrieb zu arbeiten – oder im Musikmanagement?
Zurückblickend würde ich sagen: Das Schöne war die Abwechslung. Das Geschäft war eine wichtige Rückendeckung: Ich war nicht angewiesen auf meinen Musikmanagement-Job. Ich konnte daher mehr riskieren als ein anderer, der davon leben musste.
Für welche Institution haben Sie am liebsten gearbeitet? Für die Wiener Festwochen?
Nein, sie waren das Schlimmste. Es ist ein Blödsinn, wenn die Wiener Festwochen im Theater an der Wien in Untermiete Opern realisieren. Die Salzburger Festspiele waren natürlich viel prominenter, aber meine schönste Zeit war eindeutig das Konzerthaus. Dort bin ich aufgeblüht, dort hab ich all die großartigen Künstler kennengelernt. Präsident Manfred Mautner Markhof hat mich unheimlich unterstützt: Ich konnte machen, was ich wollte, musste mir nicht alles von drei Gremien absegnen lassen.
Sie hielten Salzburg trotzdem die Treue: Sie gründeten ein neues Festival, die „salzburg biennale“, die heuer im März das erste Mal stattfand. Wie kamen Sie auf die Idee?
Ich bin seit vielen Jahren im Präsidium der Stiftung Mozarteum. Dadurch habe ich Salzburg auch unter dem Jahr kennengelernt: Ich stellte fest, dass es sehr viele Leute und vor allem auch gute Institutionen gibt, die sich mit neuer Musik beschäftigen. Aber sie haben weder das Geld noch die Infrastruktur und das Gewicht, um etwas Größeres zu realisieren. So schlug ich Bürgermeister Heinz Schaden vor, all die Initiativen unter einen Hut zu bringen und alle zwei Jahre etwas Größeres auf die Beine zu stellen. Die Idee hat ihm gefallen.
In Ruhestand zu gehen – das kommt für Sie also nicht in Frage?
Im Moment ist das keine Option. Ich muss zwar nicht dauernd ein Festival ins Leben rufen und werde das auch nicht mehr. Aber dass ich irgendwo ein bisschen mitmische, das möchte ich schon noch.
Sie haben zwei Töchter und einen Sohn, mittlerweile schon mehrere Enkelkinder: Werden Sie die Firma irgendwann der nächsten oder übernächsten Generation übergeben?
Nein. Von den Kindern – auch denen meines Bruders – arbeitet niemand mit. Und niemand wird die Firma übernehmen. Gott sei Dank. Denn sie war ein Mittler zwischen den Fleischproduzenten und den Verbrauchern, also den Fleischhauern. Der Zwischenhandel war unser Geschäft. Aber das hat sich in den letzten Jahren aufgehört. Es braucht uns nicht mehr.