Eine Ausstellung in Amsterdam beschäftigt sich mit der Frage, wo im Spektrum der Identitäts- und Repräsentationspolitik sich jüdische Menschen einordnen – und wo sie eingeordnet werden.
Von Emile Schrijver
Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden Jüdische Museen häufig aus dem Bedürfnis des jüdischen Bürgertums, ihr religiöses Kulturerbe zu zeigen und zudem für die Nachwelt vor dem Vergessen zu retten. Diese Rolle als Bewahrerin bedrohten jüdischen Kulturerbes bekam durch die Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden während des Zweiten Weltkriegs zusätzliche Bedeutung und Aufladung. Viel „verwaistes“ jüdisches Kulturerbe landete in den Jahrzehnten nach dem Krieg in Jüdischen Museen, die oft mit minimalen Mitteln und Personal die Verantwortung für diese Objekte auf sich nahmen.
In den 1970er und 1980er Jahren fanden die Jüdischen Museen eine neue Rolle. Eine immer größere Anzahl an Ausstellungen entstand, um jüdische Kultur, Kunst und Geschichte zu feiern. Immer mehr jüdische und vor allem nichtjüdische Besucher fanden den Weg in diese Museen, die bedeutsame kulturelle Institutionen wurden.
Zur gleichen Zeit entstanden auch viele Holocaust-Museen. Jüdische Museen fanden ihre eigenen Wege, mit dem Holocaust umzugehen. Diese reichten von einem Minimum an Aufmerksamkeit innerhalb einer Dauerausstellung bis hin zur buchstäblichen Allgegenwärtigkeit. In unserem Jahrhundert wurde schließlich die Rolle externer Faktoren immer wichtiger: die israelische Politik, der Einfluss jüdischer Gemeinden auf jüdische Museen und der wachsende Antisemitismus.
Erhöhter Druck
Diese Themen können je nach Land von unterschiedlicher Bedeutung sein. Das Jüdische Museum in Berlin bekam wegen einer kritischen Ausstellung über Jerusalem einen Rüffel von Benjamin Netanjahu, der Angela Merkel ein Papier mit der Forderung übergab, das Museum nicht länger zu unterstützen. Als der Druck um den politischen Kurs des Museums zu groß wurde, musste der Direktor seinen Hut nehmen. Auch im Warschauer POLIN Museum wurde der Direktor entlassen, weil der zuständige polnische Minister sich wegen einer kritischen Äußerung weigerte, dessen neuerliche Ernennung zu bestätigen. Zuletzt geriet in Polen auch die wissenschaftliche Freiheit beim Thema Holocaust unter politischen Druck, nachdem zwei Historiker angeklagt wurden, weil sie gewagt hatten, die polnische Kollaboration beim Holocaust zu thematisieren.
Zu all dem kommt vor allem seit letztem Jahr die Black-Lives-Matter-Bewegung. Viele Jüdische Museen fühlten sich berufen, ihre Solidarität zu bezeugen. Auch in Amsterdam taten wir dies, interessanterweise teilweise auf Initiative unserer jüngsten Mitarbeiter. Unter anderem schrieben wir: „Das Joods Cultureel Kwartier bezieht deutlich Stellung gegen jede Art von Rassismus, Ausgrenzung oder ungleiche Behandlung von Bevölkerungsgruppen. Wir schließen uns dem weithin getragenen Protest gegen Rassismus gegenüber Mitgliedern der schwarzen Gemeinschaft an, der seit dem gewaltsamen Tod George Floyds in Minneapolis weltweit zum Ausdruck gebracht wird. Weiters teilen wir die große Besorgnis bezüglich aller anderen Formen von Diskriminierung und Ausgrenzung, in den Niederlanden wie außerhalb … Museen spielen in der gesellschaftlichen Debatte über Rassismus eine wichtige Rolle. Durch Akzentuierung ihres Programms und Museumspädagogik können sie zu wachsendem Bewusstsein über rassistische und diskriminierende Tendenzen beitragen. Gemeinsam mit unseren Besuchern können wir unsere Stimmen erheben gegen alle Formen von Rassismus, ob institutionell oder privat.“
Ein neuer Weg
Schon viel länger hatte ich darüber nachgedacht, wie in unserem musealen Kontext mit wachsendem Antisemitismus umzugehen sei. Zu Recht erwartet man von uns, dass wir uns zur spezifischen Situation von Juden in aktuellen gesellschaftlichen und politischen Debatten äußern. Tun wir dies nicht, sind wir meiner Meinung nach innerhalb von zehn Jahren vollkommen irrelevant.
In Amsterdam werden wir irgendwann zweifellos eine große Retrospektive über die Geschichte des Antisemitismus machen (was ich vor fünf Jahren übrigens noch nicht mit Sicherheit zu behaupten gewagt hätte). Eine solch große Ausstellung aber erfordert eine lange Vorbereitung, doch gerade derzeit ist eine schnelle museale Einmischung gefragt. Angeregt durch einen Artikel des Publizisten Gideon Querido van Frank, der im Sommer 2019 in der niederländischen Wochenzeitung Vrij Nederland erschien, und der auf die Frage einging, wie und weshalb die Linke im Streit gegen „white privilege“ ein ums andere Mal auch die Juden zu treffen scheint, beschlossen wir, diesmal einen anderen Weg einzuschlagen.
Drei Gastkuratoren, Gideon Querido van Frank, Lievnath Faber und Anousha Nzume, die jeweils aus ihrer jüdischen Identität heraus auf die eine oder andere Art mit der Emanzipation von Minderheiten zu tun haben, bekamen von uns den Raum, um unter dem Titel Sind Juden weiß? ein kleines Ausstellungsprojekt mit großen Ambitionen und einem besonderen Veranstaltungsprogramm zu organisieren.
Natürlich geht es in Sind Juden weiß? nicht um die Hautfarbe von Juden, sondern um die Frage, wo sie sich im Spektrum der Identitäts- und Repräsentationspolitik befinden. Sind sie bevor- oder benachteiligt? Opfer oder Täter? Wie erleben sie das selbst? Und wie werden sie von anderen gesehen? Verschiedene Emanzipationsbewegungen stehen zunehmend füreinander ein, ausgehend von dem Gedanken, dass Unterdrückungssysteme einander überlappen und sich ein Problem nicht ohne das andere lösen lässt. Oft jedoch ist es bitter zu sehen, wie deutlich das Thema Antisemitismus in dieser Solidarität unter verschiedenen verfolgten Gruppen fehlt. Mehr noch: Immer häufiger wird von der „jüdisch-christlichen Kultur“ gesprochen, sodass Juden als Teil der etablierten Ordnung erscheinen.
Unsere Gastkuratoren sprachen vor der Kamera mit sehr unterschiedlichen Menschen. Jüdische, nichtjüdische, eher links oder eher rechts orientierte Personen, farbige, weiße, „White Passing“ oder Mitglieder der LGBTQI+-Bewegung äußern sich zur Frage, wie sie sich selbst und andere sehen. Teile dieser Interviews bilden als Videoinstallation das Herz dieser Ausstellung.
Die Veranstaltungen, die wir mit externen Parteien organisieren, haben anregende Titel wie Seltsame Bettgenossen (zur zentralen Frage, warum Antisemitismus keine Priorität heutiger Emanzipationsbewegungen ist) und Jews of Colour (wobei Gastkuratorin Anousha Nzume mit anderen „Jews of Colour“ diskutiert).
Später im Jahr 2021 organisieren wir eine große Veranstaltung, mit der wir auf Sind Juden weiß? zurückblicken, aber auch einen Ausblick auf unser zukünftiges Programm rund um dieses heikle Thema geben.
Ich glaube noch immer an das traditionelle Jüdische Museum. Noch immer komme ich gerne in ein Museum, um mich überraschen zu lassen, neue Dinge zu erfahren, Schönheit zu erleben und oft nicht mehr bestehenden jüdischen Lebens zu gedenken. Aber Museen sind auch hervorragende „safe spaces for unsafe ideas“. Gerade in unsicher scheinenden Zeiten ist die Art verlässlicher, wohlüberlegter, anregender und inspirierender Einmischung, die Museen bieten können, von großer Bedeutung. Darum haben wir Sind Juden weiß? gemacht.
Emile Schrijver ist seit 2015 Generaldirektor des Joods Historisch Museum und Joods Cultureel Kwartier (JCK) in Amsterdam. Die Ausstellung „Sind Juden weiß?“ ist bis 1. August 2021 ebendort zu sehen.
www.jck.nl
Übersetzung aus dem Niederländischen: Tobias Müller