David Dunetz, Klimaforscher und Nachhaltigkeitsspezialist, vermisst im NU-Gespräch Klimaschutz in Israel als Wahlkampfthema. Dabei hängt der Erfolg für den Wissenschaftler vor allem von politischen Entscheidungen ab.
Von Andrea Schurian
Seit mehr als zwanzig Jahren arbeitet David Dunetz am Heschel-Zentrum für Nachhaltigkeit in Tel Aviv, zwischen 2014 und 2016 sogar als dessen Direktor. Benannt ist das 1998 gegründete Forschungszentrum nach Rabbi Abraham Joshua Heschel, einem der führenden jüdischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Dessen Wirken sei, wie es auf der Homepage des Heschel-Zentrums heißt, von der Liebe für die Schöpfung bestimmt gewesen, und der Namenspatron habe stets das Positive des menschlichen Potenzials betont. „In seinem Geist versuchen wir, Umweltfragen und soziale Gerechtigkeit zu verknüpfen“, so Dunetz. Voriges Jahr verbrachte der Sohn polnischer Holocaust-Überlebender vier Monate als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) in Potsdam. „Und als ich zurück nach Israel kam, begannen alle Balagan (jiddisch für „totales Chaos“, Anm.) mit Covid“.
NU: Ihr spezielles Interesse ist, Strategien für mehr Nachhaltigkeit in Israel zu entwickeln. Was genau darf man sich darunter vorstellen?
David Dunetz: Wir verwenden den Begriff „Think-and-Do-Tank“: Es geht darum, neue Ideen, Wertekonzepte sowie bewährte Verfahren zusammenzuführen. Das beinhaltet auch Trainings- und Weiterbildungsprogramme sowie die enge Zusammenarbeit mit Kommunen. Wir legen großen Wert darauf, mithilfe partizipativer Strategien Modelle für einen positiven Wandel zu entwickeln.
Corona hat die Klimaschutzdebatte weltweit in den Hintergrund gedrängt, vermutlich auch in Israel?
Ja und nein. Es gibt eine große globale Gesundheitskrise, die Welt ist derzeit damit beschäftigt, nicht nur ein Virus zu bekämpfen, sondern auch einen drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruch. Für Bevölkerungsgruppen, die schon bisher benachteiligt waren, ist Covid quasi ein Ungleichheitsmultiplikator. Die Coronakrise lehrt uns in vielerlei Hinsicht, wie eine noch viel größere Krise wie der Klimawandel aussehen kann: nämlich noch viel komplexer, viel gravierender. Aber es gibt Unterschiede zwischen den beiden Krisen.
In Israel herrschte kein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für den Klimawandel. Dies ändert sich gerade – nicht wegen, sondern trotz Corona. Zum Beispiel steht bei den Wahlen erstmals das Klima auf der Tagesordnung der Kandidaten – nicht als wichtigstes Thema, aber immerhin. Der Nahe Osten ist bereits eine Art Klima-Hotspot, die Klimaerwärmung beträgt 1,5 Grad Celsius. Am Ende des Jahrhunderts – oder schon lange davor – werden es mehr als drei Grad sein.
Wie groß ist das politische und zivilgesellschaftliche Interesse an Klimapolitik in Israel?
Es gibt eine wachsende Bewegung für Fridays for Future. Jugendliche interessieren sich für Klimaorganisationen, auch Eltern und Lehrer beschäftigten sich mit dem Klima und Grass-Roots-Bewegungen wie XR (Extinction Rebellion, Anm.). Freilich stehen diese Bewegungen in der Berichterstattung immer noch im Schatten großer Themen wie Covid, Bibi (Netanjahu, Anm.) und Wahlen. Eine kürzlich vom Institut für Demokratie durchgeführte Umfrage hat gezeigt, dass mindestens 70 Prozent der israelischen Bevölkerung der Meinung sind, dass die Regierung mehr in Sachen Klimaschutz tun sollte. Letztes Jahr haben 3000 Menschen an der jährlichen Klimakonferenz teilgenommen, die das Heschel-Institut mitorganisiert. Dieses Jahr dezentralisieren wir die Veranstaltung, es werden 15 regionale Klimakonferenzen im ganzen Land stattfinden, um möglichst viele Menschen einzubeziehen. Wir kooperieren mit mehr als 70 Organisationen.
Welche Rolle spielt Israel in der internationalen Klimapolitik?
Eine nicht sehr wesentliche, fürchte ich. Wir sind ein kleines Land, aber unsere Pro-Kopf-Emissionen erreichen europäische Ausmaße. Israels Engagement für das Pariser Klimaabkommen war recht unambitioniert. Das hat sich unter dem Druck von Klimaschutzgruppen geändert. Israel sind international beachtete Fortschritte im Bereich der Solarenergie und der Wassertechnologie gelungen. In dieser Hinsicht gibt es viele Kooperationen und Geschäftsanbahnungen. Ich denke, wir können die diesbezüglichen Signale aus Europa und der neu gebildeten Regierung Biden lesen. In Sachen CO2-Ausstoß bewegt sich jetzt schon sehr viel! Heschel hat sich gerade als Teil von zwei Konsortien zum Europäischen Green Deal für Bürgerberatung und -beteiligung angemeldet, wir hoffen auf eine intensive Zusammenarbeit.
Welche Rolle spielt der persönliche Lebensstil im Hinblick auf den Klimawandel?
Der Klimawandel erfordert Veränderungen in allen Lebensbereichen. Es ist ein Wertewandel vonnöten, um eine kohlenstoffarme, faire Wirtschaft zu forcieren. Die auf fossiler Energie basierende Weltwirtschaft verursacht Klimastörungen, ökologische Katastrophen und wachsende Ungleichheit. Daher müssen wir neu definieren, was Fortschritt bedeutet, was ein glückliches und gutes Leben ausmacht. Wenn Sie jedoch „Änderung des Lebensstils“ als Teil der Lösung sehen, fürchte ich, dass viel zu viel Klima- und Umweltschutzmaßnahmen privatisiert wurden. Doch dass der Klimawandel mit der Änderung des individuellen Lebensstils aufgehalten werden könnte, ist Unsinn und vernachlässigt den wesentlichen Part, nämlich den der Politik.
Dennoch: Was kann jeder Einzelne zum Klimaschutz beitragen – und dazu, den Fokus der Politik darauf zu lenken?
Das Wichtigste ist, mit Freunden und Familie darüber reden; sich selbst und andere informieren, was State of the Art ist; beobachten, was andere Menschen gegen den Klimawandel machen – und mitmachen! Klimasanierung erfordert kollektives Handeln. Wir brauchen engagierte Bürger, weil nur dann die politischen Entscheidungsträger erkennen, dass Klimaschutz öffentlicher Wille ist. Tun Sie Dinge, die Ihnen Freude bereiten und gesund sind: Fahren Sie mehr Fahrrad als Auto, gehen Sie spazieren, verbringen Sie Zeit mit der Familie, nicht nur um zu shoppen, sondern um Gemüse anzubauen, soziale Bindungen und Gemeinschaft aufzubauen. Unterstützen Sie die das Empowerment und die Emanzipation der Frauen! Die Leute verwechseln oft das Bemühen um Klimaverbesserung mit einer Weltuntergangsmentalität und asketischer Verleugnung. Das Gegenteil ist der Fall: Wir können der Welt, uns selbst und unserer Gesellschaft Gutes tun – und gleichzeitig die Auswirkungen des Klimawandels verringern.
Forscher der W Booth School of Engineering Practice and Technology an der kanadischen McMaster University haben ermittelt, dass in zwanzig Jahren Smartphones, Datenzentren und andere Kommunikationssysteme die größte Gefahr für die Umwelt sein werden, schlimmer als Energieumwandlung, Verkehr und Industrie zusammen.
Um Einstein recht frei zu interpretieren: Unser Wertesystem und unsere Denkweise halten nicht mit unseren technologischen Fähigkeiten Schritt. Technologie bringt viele Segnungen, hat aber fast immer einen hohen Preis. Doch wir fragen uns selten, ob wir diesen Preis wirklich zahlen wollen. Ob es uns das wert ist. Digitale Armut und Ungerechtigkeit sowie der CO2-Fußabdruck all dieser neuen Spielzeuge sind besorgniserregend.
Spaltet die Klimadebatte die Gesellschaft in Reiche und Arme? In solche, die sich alles leisten können, und solche, die sich gefälligst schämen sollen? In solche, für die Klimabetroffenheit eine schicke Attitüde ist, und solche, die aufrichtig besorgt sind?
Der Klimawandel ist ein Risikomultiplikator. Gefährdet sind wir alle, aber die Schwächsten werden am härtesten getroffen. Klimawandel ist daher auch ein Ungerechtigkeitsindikator: Die jüngsten Grafiken zeigen, dass mehr als fünfzig Prozent der weltweiten Treibhausgas-Emissionen von elf Prozent der Weltbevölkerung stammen! Das heißt: Diejenigen, die die Klimakrise überhaupt erst verursacht haben, sind nicht die jenigen, die am meisten leiden werden. Das ist meiner Meinung nach das Kernthema: Wie wir mit unseren Werten, unserer Politik und Wirtschaft umgehen. Wir müssen diese Debatten quer durch alle Gesellschaften führen.
Was ist Ihre persönliche Botschaft in Sachen Nachhaltigkeit und Klimaschutz?
Ich werde zwei aus unserer eigenen biblischen Tradition auswählen: Im Garten Eden wird die Menschheit angewiesen, „le-ovada uleshamra“ – also die Welt zu kultivieren und zu bewahren. Und zweitens „Tzedek, tzedek tirdof“ – Gerechtigkeit, strebe Gerechtigkeit an! Bei Klimaschutz und Nachhaltigkeit geht es darum, eine gerechtere und gesündere Welt für alle zu schaffen.
Informationen und Kontakt unter www.heschel.org.il