Daniel Oren dirigiert an den führenden Opern- und Konzerthäusern der Welt die bedeutendsten Orchester. Derzeit allerdings ist der israelische Stardirigent nur via Skype in der Welt unterwegs.
Von Andrea Schurian
Üblicherweise jettet Daniel Oren von Opernhaus zu Konzerthalle, von Covent Garden in London an die Scala nach Mailand und weiter an die Met in New York, dazwischen nach San Francisco, Buenos Aires, Wien, Salzburg, Verona, München, Turin, Paris. Oder nach Salerno, wo er seit 2007 als Musikdirektor am Teatro Municipale Giuseppe Verdi wirkt. Doch jetzt, in Zeiten von Corona, ist der Maestro nicht in der Welt unterwegs, sondern musste zumindest vorübergehend sesshaft werden. Und, ja, genießt es sogar ein bisschen. Denn statt am Dirigentenpult zu stehen, verbringt der israelische Stardirigent schon mehr als drei Monate am Stück in Toulon, mit seiner Frau, der französischen Schauspielerin Bérengère Warluzel, den vier gemeinsamen Kindern Romane, Ysaure, Guilad und Ariel. Und mit Schwiegermama und Schwager. „Corona ist eine große Tragödie für jeden, vielleicht eine noch größere für Künstler. Musiker ohne Musik: Das ist der Tod. Andererseits sagen die Kinder: ‚Vater, das ist das erste Mal, dass du so viel Zeit mit uns verbringst, so viel haben wir einander selten im Leben gesehen.‘ Und, ja, das ist eine große Freude für uns.“
Spätestens im Dezember will Daniel Oren allerdings wieder nach Salerno, wo er noch im Sommer einige Open-Air-Konzerte veranstalten und sogar die Lustige Witwe aufführen konnte. Dass die Kulturinstitutionen geschlossen sind, sei bedauerlich, aber freilich, Gesundheit gehe vor. Viele Häuser würden jetzt Streamingangebote ausrichten, aber das sei nicht so seins. Es fehle die Emotion, das gewisse Etwas einer Live-Aufführung, das Publikum müsse für den vollendeten Genuss den Dirigenten, die Musiker im Orchestergraben, die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne direkt erleben. „Aber ich weiß, dass meine Leute ohne Arbeit sind. Es ist ein Desaster, nicht nur für das Orchester und die Sänger, sondern auch für die Kostüm- und Bühnenbildner, für die Schneider, Tischler, Handwerker, für alle, die in verschiedensten Funktionen am Theater beschäftigt sind. Es ist eine Mizwa, dafür zu sorgen, dass sie Geld verdienen können. Also überlege ich mir doch, Streamings anzubieten.“ Kleine Pause. „Oder es passiert ein Wunder und Covid verschwindet!“
Heimat Israel
Viele seiner Dirigate sind dieses Jahr der Pandemie zum Opfer gefallen, darunter die Tosca mit Anna Netrebko in Covent Garden und Nabucco in der Arena di Verona, Cavalleria Rusticana und Bajazzo im Royal Opera House London, Fedora an der Scala und La Bohème in Turin, just dort, wo Giacomo Puccinis Oper im Jahr 1896 unter Arturo Toscanini uraufgeführt wurde. Dass diese Aufführung abgesagt werden musste, tut ihm besonders weh. Denn Italien ist seine zweite Heimat, hier feierte er nach seiner Dirigenten-Ausbildung in Berlin, wo er als Zwanzigjähriger den Herbert-von-Karajan-Wettbewerb gewann, seine ersten großen Erfolge an der Accademia Nazionale di Santa Cecilia. In einem seiner Konzerte saß damals auch Opernintendant Gioacchino Lanza Tomasi und lud den vielversprechenden jungen Musiker aus Israel ein, Manon Lescaut zu dirigieren, „eine der schwierigsten Opern von Puccini überhaupt.“ Und Oren wurde Hausdirigent am Teatro dell’Opera in Rom, am Teatro Verdi in Triest, am Teatro di San Carlo in Neapel und am Teatro Carlo Felice in Genua. 2014 übernahm er außerdem für vier Jahre die musikalische Leitung der Israeli Opera in Tel Aviv, deren Ehrendirigent er bis heute ist. In seiner Heimat Israel, sagt der Welt- und Weitreisende, fühle er sich immer noch am meisten zu Hause.
Daniel Oren wurde 1955 in Jaffa geboren; damals trug er allerdings noch den arabischen Familiennamen Siksik. Den sollte er erst ändern, als er zum Studium nach Berlin ging. Es war die Zeit des PLO-Terrors, Daniels Eltern befürchteten, dass ihm wegen des Nachnamens Nachteile erwachsen könnten. Womöglich würden arabische Studenten die Inskriptionsverzeichnisse nach arabischen Namen durchforsten und dabei auf den jungen Israeli stoßen. Warum aber ausgerechnet Oren? Gab es den Namen bereits in der Familie? „Nein. Aber er hat, wie ich finde, einen schönen Klang. Außerdem ist er die hebräische Bezeichnung für Kiefer. Ich liebe Kiefern, sie werden in Israel übrigens auch als Weihnachtsbäume verwendet.“
Arabisch-jüdische Familiengeschichten
Eine Terroristensuche brachte seinerzeit auch Orens Großeltern zusammen. Der muslimische Großvater war als Soldat der türkischen Armee an der Suche nach einem angeblichen jüdischen Attentäter beteiligt. Als er das Haus seines späteren Schwiegervaters betrat, eines wohlhabenden Besitzers mehrerer Fischgeschäfte in Jaffa, sah er zwar den Verdächtigen, er verliebte sich aber in die schöne Tochter des Hauses. „Mein Großvater war ein sehr nobler Mann. Er liebte die Juden. In den 1930er Jahren, bei einem arabischen Pogrom gegen Juden, versteckte er in seinen Geschäften die jüdischen Bürger von Jaffa. Und Jahre später warnte er seinen Freund, Tel Avivs Bürgermeister Meir Dizengoff, vor einem arabischen Mordkomplott. Für die Araber war mein Großvater ein Verräter, für die Juden blieb er trotz allem ein Araber. Es war schwierig für meine Familie, auch in meiner Kindheit lebten wir immer noch in diesem Zwiespalt.“ Die jüngsten bilateralen Friedensvereinbarungen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Sudan gäben Anlass zu Hoffnung und würden à la longue wohl auch die Situation in Israel verändern: „Das war ein Riesending, das Donald Trump und Benjamin Netanjahu auf den Weg brachten. Ich bin sicher, dass Joe Biden diese Linie fortsetzen wird.“
Wie später auch Sohn Daniel besuchte Vater Ismail das Herzliya-Gymnasium, als vermutlich einziger Araber in der Klasse. Als er zwölf war, sang er mit großer Inbrunst die israelische Hymne. „Sein Musiklehrer fragte ihn, warum er das tat. Was er damit aber eigentlich sagen wollte, war: ‚Du bist Araber, du hast mit der Hymne nichts zu tun.‘ Das verletzte meinen Vater wie hundert Messer in seinem Herzen, sein ganzes Leben sprach er von diesem großen Schmerz.“
Avram, Daniels Onkel, wurde übrigens der erste muslimische Richter Israels; Daniels Vater Ismael hingegen entschied sich als Sohn einer jüdischen Mutter fürs Judentum und heiratete schließlich die gläubige Jüdin Rivka Granatstein, Daniels Mutter. „Sie war eine großartige jiddische Mamme. Und sie war davon überzeugt, dass ich eine große Mission zu erfüllen habe im Leben.“ Also schleppte sie den Sohn zu Klavier-, Cello- und Gesangslehrern und ließ sich davon auch nicht abbringen, als der Klavierlehrer beschied: „Der Bub hat kein Talent.“ Auch die Gesangslehrer befanden den Elfjährigen als zu jung für eine Ausbildung und empfahlen, man solle doch zumindest den Stimmbruch abwarten. Das allerdings war keine Option für die Frau Mama. Als Leonard Bernstein nach Israel kam, um seine Chichester Psalms aufzuführen, und einen Sänger für ein Solo des Königs David als Kind suchte, brachte Rivka Siksik ihren Sohn zum Vorsingen. Und bestand darauf, dass Bernstein höchstpersönlich ihren Sohn anhören sollte. Die Nähe zu Bernstein sei eine seiner wichtigsten und prägendsten Erfahrungen gewesen: „Bernstein war so ein wichtiger Musiker und Dirigent, vor allem aber war er a real Mentsch! Herbert von Karajan war ein großartiger Dirigent, niemand erreicht seinen Klang. Aber er war immer der große Karajan, der zu den anderen Menschen einen Kilometer Abstand hielt. Bernstein war das Gegenteil. Er war genial als Musiker und Dirigent, aber er sprach mit jedem auf Augenhöhe. Er hatte eine große Seele. Das hört man auch an der Musik. Er ist mein großes Idol.“
Erlaubtes Vergnügen
Nach diesem Erlebnis war es wieder die Mutter, die befand, dass ihr Sohn zu Größerem als „nur“ zu einem Instrument berufen sei, nämlich zum Dirigieren. Nach etlichen Absagen – „Ihr Sohn ist zu jung“ – überzeugte sie einen gewissen Herrn Lustig, ihrem Daniel das Dirigieren beizubringen. „Selbstverständlich überwachte sie den Unterricht“, erinnert sich der Maestro und lächelt: „Meine Mutter war furchtbar – im positiven Sinn. Ich hatte viel Feuer beim Dirigieren, holte weit aus. Herr Lustig riet mir zu kleineren Bewegungen. Meine Mutter stoppte ihn und sagte ihm auf Deutsch: ‚Herr Lustig, ich erlaube Ihnen nicht, die Persönlichkeit meines Sohnes zu zerstören!“
Dirigieren, sagt Daniel Oren, sei für ihn wie ein großes Gebet, mit der Musik komme man näher zu Gott, vielleicht sogar näher als mit Gebeten: „Musik ist das Vorzimmer zu Gott, übrigens auch katholische Musik. Vor Covid dirigierte ich in Santa Cecilia in Rom die Messa da Requiem von Verdi. Ich fühlte mich Gott so nahe, obwohl es kein jüdisches Gebet war. Mir kamen während des Dirigierens die Tränen. Viele Musiker sagten danach zu mir: ‚Wir beteten von der ersten bis zur letzten Note mit dir.‘ Musik ist ein Privileg, das Gott uns gegeben hat.“
Als orthodoxer Jude bemühe er sich natürlich, Schabbat-Regeln und jüdische Feiertage einzuhalten. Doch gleich eines seiner Konzerte nach dem Karajan-Wettbewerb fand an einem Freitag statt. Was also tun? Daniel Oren suchte Rat bei einem Berliner Rabbiner. Er erklärte diesem, dass er ohne Musik nicht leben könne und dass für ihn die Musik wie ein wunderschönes Gebet sei, das ihn näher zu Gott führe. „Auf eine gewisse Weise gab mir der Rabbi die Erlaubnis, auch am Schabbat zu dirigieren, indem er sagte: ‚Du arbeitest ja nicht, du dirigierst zum Vergnügen.‘“