Warum der Stadttempel in der Seitenstettengasse nicht nur aufgrund seiner außergewöhnlichen Geschichte etwas ganz Besonderes ist.
Von René Wachtel
Für meinen Vater, Ignatz Wachtel, war der Stadttempel in der Seitenstettengasse im ersten Bezirk nach dem Zweiten Weltkrieg sein Bezug zum Judentum und seiner neuen Heimat. Er war als polnischer Jude aus Mauthausen befreit worden. Mein Vater war überhaupt nicht religiös, aber mit seinem ersten Geld nahm er sich einen Platz im Stadttempel, den er bis zu seinem Tode innehatte.
Unsere Familie feierte im Stadttempel alle religiösen Feste – mein Bruder Michael und ich hatten dort unsere Bar-Mizwas, er, meine Schwester Sonja und meine Nichte Nicole heirateten dort. Auch den Aufruf zur Thora bei der Hochzeit meines Neffen Rimon, der in den USA lebt, hatten wir hier. Mein Vater und seine Brüder ließen im Stadttempel auch eine Tafel zu Ehren ihrer ermordeten Eltern anbringen. Der Stadttempel ist „mein Platz“, obwohl ich nur zu den hohen Feiertagen und zu einigen Schabbatot gehe. Und immer ist es etwas Besonderes für mich.
Einmalige Geschichte
Was bedeutet für einen nicht sehr gläubigen Juden der Stadttempel in der Seitenstettengasse? Ist es nur die Tradition, weil schon die Eltern dort waren? Nein, es ist mehr als das. Schon am Eingang steht der Psalmvers: „Tretet ein durch dieses Tor mit Dankbarkeit, kommet in diese Hallen voll des Lobes.“
Die Geschichte des Stadttempels ist etwas Einmaliges. Mit dem Toleranzpatent von Kaiser Joseph II. wurde den jüdischen Gemeinden gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Errichtung von Synagogen gestattet. Eröffnet wurde der Bau nach Plänen von Joseph Kornhäusel, einem der bekanntesten Architekten seiner Zeit, am 9. April 1826. Den damaligen Vorschriften entsprechend, durfte der Tempel von außen nicht als solcher erkennbar sein. Von der Straße aus sah er daher wie ein normales Zinshaus aus, war aber im Inneren umso prächtiger. Er wurde zu einem wichtigen Platz für Neues; Salomon Sulzer (1804–1890) beispielsweise, der als Schöpfer der modernen Synagogenmusik gilt, war 56 Jahre lang im Wiener Stadttempel als Kantor tätig. In den Novemberpogromen 1938 wurde der Stadttempel als einzige Synagoge Wiens nicht zerstört.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde schon am 2. April 1946 im provisorisch renovierten Stadttempel der erste feierliche Gottesdienst im Beisein des damaligen Wiener Bürgermeisters Theodor Körner abgehalten. Ein denkwürdiges Ereignis war auch die Aufbahrung von Theodor Herzl, seiner Eltern und seiner Schwester am 14. August 1949, bevor die sterblichen Überreste nach Israel überführt wurden. Zu dieser Zeit (und bis zu seinem Tod 1983) war Akiba Eisenberg als Oberrabbiner tätig. Sein Sohn Paul Chaim Eisenberg folgte ihm in dieser Funktion nach. Die Ära Vater und Sohn Eisenberg dauerte mehr als 65 Jahre und prägte unsere Gemeinde nachhaltig.
Toleranz und Humor
Der Stadttempel ist auch zionistisch geprägt. Oberrabbiner Akiba Eisenberg zelebrierte seit der Entstehung des israelischen Staates jedes Jahr am Schabbat vor dem Unabhängigkeitstag einen Gottesdienst für Israel. Den Schabbat anlässlich des österreichischen Nationalfeiertags, der viele Jahre abgehalten wurde, gibt es seit längerem nicht mehr.
Die Toleranz, der Humor und die positive Geisteshaltung der Rabbiner Akiba und Paul Chaim Eisenberg bleiben für mich und sicherlich auch für viele andere Jüdinnen und Juden unvergesslich. Man konnte sich stets in aller Offenheit an sie wenden; sie wiesen einen nicht zurecht, maßregelten einen nicht, sondern gingen menschlich auf die Ratsuchenden ein. Ihre Gottesdienste waren bewegend, die Draschot immer interessant und verständlich. Oberkantor Shmuel Barzilai, Tommy Grosz als Vorbeter, Schammes Rami Ungar Klein, der Chor und Kinderchor verleihen dem Stadttempel eine familiäre Atmosphäre.
Für meine Mutter war es wunderschön, dass sich Oberrabbiner Paul Eisenberg in ihren letzten Lebensjahren die Zeit nahm und sie zu Hause besuchte. Diese Stunde zu Hause waren sehr wertvoll.
Denn unabhängig davon, wie religiös man ist – der Stadttempel ist und bleibt der Mittelpunkt für die Wiener Juden.