Der Fall des Hochstaplers Axel Spörl, der sich eine jüdische Identität gab, ist Teil eines Phänomens, über das man nur staunen kann.
Von Thomas Trenkler
Vor vielen, vielen Jahren führte ich ein Interview mit dem Physiker Heinz von Foerster, der am 13. November 1911 laut Eigendefinition „in eine echte Wiener Familie germanisch-slawisch-jüdischer Abstammung hineingeboren“ worden war. Sein Urgroßvater Ludwig konzipierte die Ringstraße, seine Großmutter Marie profilierte sich als frühe Frauenrechtlerin, einer seiner Onkel war Ludwig Wittgenstein, und Bruder Uzzi frönte dem Jazz.
Er erzählte sehr ausführlich, dass er in der NS-Zeit immer wieder um den „Ariernachweis“ gebeten worden war. Irgendwann hatte er mit seiner Masche, den zerstreuten Professor zu geben, keinen Erfolg mehr. Und so ging er nach Berlin, in das Auge des Taifuns. Auch dort verlangte man von ihm den „Ariernachweis“. Er sagte, er habe diesen bei der zuständigen Behörde in Wien abgegeben, aber er werde ihn sich nachschicken lassen. Von nun an schob Heinz von Foerster alle Schuld auf die unfähige Verwaltung in Österreich. Und er hatte Erfolg: Man vergaß auf das Dokument.
Die Strategie des Heinz von Foerster wandte in der NS-Zeit so mancher Wagemutige an. In seinem hinreißenden Stück In der Löwengrube verarbeitet Felix Mitterer die abenteuerliche Geschichte von Leo Reuss, über den Kollegin Gabriele Flossmann in der vorigen Ausgabe von NU („Das Landei als Jedermann“, 2/20) ein ausführliches Porträt geschrieben hat: Der in Wien aufgewachsene Schauspieler ging nach Berlin, leitete dort das Agnes-Straub-Theater und erhielt 1934, ein Jahr nach der Machtübergabe an Adolf Hitler, als Jude Arbeitsverbot. Reuss emigrierte nach Österreich – und verschwand schließlich. Man sagte, er sei nach Amerika gegangen. Einige Zeit später, im Sommer 1936, gab er sich in Salzburg bei Max Reinhardt als Tiroler Bauer namens Kaspar Brandhofer aus – und dieser empfahl ihn ans Theater in der Josefstadt, wo er als Naturtalent gefeiert wurde.
Mutmaßlich unberechtigt
Erstaunlicherweise gibt es aber auch genau die gegenteilige Strategie, dass sich jemand als Jude ausgibt. Aus geschäftlichen Gründen? Aus Überidentifikation mit den Opfern? Wer weiß das schon. Anfang Mai dieses Jahres, in den Zeiten des Lockdowns, recherchierte ich, Kulturredakteur beim Kurier, eine Geschichte über Lug und Trug und Dokumentenfälschung, bei der man regelrecht dazuschreiben muss, dass es sich um eine wahre handelt. Weil sie wie erfunden klingt. Ein gewisser Dr. Axel Spörl hatte sich kurz zuvor für als Geschäftsführer von „Art for Art“, der Servicegesellschaft der Bundestheater, beworben. Er konnte die prominent besetzte Bestellungskommission mit links überzeugen – und wurde von der damaligen Kulturstaatssekretärin Ulrike Lunacek bestellt.
Ehemalige Kollegen konnten es nicht fassen. Denn für sie war Spörl ein Aufschneider und Hochstapler. Sie hatten bereits im Vorjahr Stefan Weber beauftragt, dessen Dissertation zu prüfen. Doch der Salzburger „Plagiatsjäger“ konnte keinen Hinweis auf deren Existenz finden: Er kam am 19. Dezember 2019 zum Schluss, dass Spörl den Doktorgrad „mutmaßlich vorsätzlich unberechtigt“ führe.
Mosaisch durch Geburt
Ein paar Tage nach Spörls Bestellung, am 16. April, übermittelte Weber sowohl Lunacek als auch Christian Kircher, dem Geschäftsführer der Bundestheater-Holding, seine Sachverhaltsdarstellung. Lunacek bat Kircher, der Sache nachzugehen, Kircher bat Spörl um einen Beweis, und Spörl mailte eine Kopie seiner Promotionsurkunde als Scan. Dieser zufolge habe er am 6. Februar 1996 nach Approbation seiner Dissertation von der Universität in Würzburg die Rechte und Privilegien eines Doktors der Philosophie verliehen bekommen.
Der lateinischen Urkunde beigefügt war eine beglaubigte Übersetzung – und die Bestätigung eines Notars, dass die Fotokopie mit der Vorlage „vollkommen“ übereinstimme. Kircher stellte fest, dass es den Notar tatsächlich gibt, und hegte keine weiteren Zweifel. Das Gutachten von Weber zog daher keine Konsequenzen nach sich. Und so wandten sich die ehemaligen Kollegen an den Kurier beziehungsweise in der Folge an mich.
Die Männer verwiesen unter anderem auf eher widersprüchliche Angaben zum Lebenslauf. Einerseits hätte Spörl, geboren am 5. Mai 1971 in Regensburg, angegeben, die deutsche Schule in Athen abgeschlossen zu haben. Danach, von 1990 bis 1995, habe er Computerwissenschaft in Passau und Würzburg sowie Komposition und Gitarre in Passau, Regensburg und Würzburg studiert. In einem Porträt der OÖ Nachrichten vom 12. September 2015 hingegen liest man: „Spörl stammt aus Israel und wuchs in Ried im Innkreis auf, weil seine Eltern dorthin, in ihre alte Heimat, zurückkehrten.“
Unter den vielen Geschichten, die Spörl aufgetischt haben soll, ragt eine besonders heraus. Es geht um einen Matrikenauszug der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, am 14. August 2017 auf den Namen „DI Dr. phil. Axel-Christian David Spörl“ ausgestellt. Bis zum 23. Oktober 2012 hätte diese Person die israelische Staatsbürgerschaft besessen, sie sei „mosaisch durch Geburt“.
Gefälschter Matrikenauszug
Mich machte weniger der Diplomingenieur denn der eingefügte Name „David“ stutzig. In der NS-Zeit hatten bekanntlich die männlichen Juden den zusätzlichen Vornamen „Israel“ zu führen – um kenntlich zu sein. Ich fragte daher bei der Israelitischen Kultusgemeinde nach. Die Antwort war unwirsch, was ich nicht nachvollziehen konnte. Denn wenn sich tatsächlich jemand fälschlicherweise als Jude ausgibt, müsste es doch im Sinne der IKG sein, den Fall aufzudecken. Zum Glück wurde mir von anderer Seite bestätigt, dass der Matrikenauszug aus mehreren Gründen eine Fälschung ist. Unter anderem, weil die Wendung „mosaisch durch Geburt“ nicht verwendet werde. Und weil jene Person, die das Dokument erstellte, zum Zeitpunkt der angegebenen Ausfertigung eine andere Funktion hatte.
Ich bat Spörl, der mir als überaus gewinnend beschrieben worden war, schriftlich um Aufklärung. Er antwortete in der Tat sehr ausführlich: 2010/2011 sei von Kollegen im Wirtshaus festgestellt worden, dass „keine Juden mehr am Tisch“ sitzen würden. Dies hätte er nicht so stehenlassen wollen. „Ich habe gesagt: Es sitzt ein Jude am Tisch – ich. Der Satz hat seine Wirkung nicht verfehlt, aber ich habe verabsäumt, die Angelegenheit richtigzustellen.“ 2017 hätte er Symptome eines Burnouts gehabt – und ein Kollege hätte ihn unter Druck gesetzt, weil der Beweis für sein Judentum fehlte. „Danach ist das gefälschte Dokument aufgetaucht. Ich habe keine Erinnerung daran, es fabriziert zu haben.“ Und: „Das Dokument lag nie im Original vor, sondern nur als PDF“ im elektronischen Personalakt.
Der Prokurist des Unternehmens erklärte jedoch auf Nachfrage: „Der gefälschte Matrikenauszug wurde aktiv von Axel Spörl an mich per E-Mail übermittelt, um in den Genuss eines zusätzlichen Feiertages (zu Jom Kippur, Anm.) zu gelangen. Dieser wurde daher von mir in unsere Personalabteilung weitergeleitet. Eine Fälschung durch Dritte ist auszuschließen. Das E-Mail, mit welchem mir der Matrikenauszug zugegangen ist, finden Sie als PDF in der Anlage.“ In diesem fragt Spörl triumphierend: „Habe ich jetzt einen Feiertag mehr ;-)?“
Moralisch unangreifbar?
Warum gibt sich jemand als Jude aus? Nur wegen eines zusätzlichen Feiertags? Oder steckt mehr dahinter? Ein ehemaliger Freund schilderte mir ausführlich, dass Spörl ihm die tragische Geschichte seiner Familie erzählt habe – inklusive Enteignung und Flucht. Es habe ihm, so mein Gesprächspartner, beim Zuhören die Tränen in die Augen getrieben, er hätte jedes Wort als wahr empfunden und habe erst Jahre später erkennen können, dass so manches an den Erzählungen nicht stimmte.
Warum gibt sich jemand als Jude aus? Nur um mit einer abenteuerlichen Geschichte fesseln zu können? Auch das wäre wohl zu kurz gegriffen. Besagter Freund berichtete mir zudem, dass Axel Spörl, wiewohl evangelisch getauft, immerzu die Kippa getragen hätte, nicht nur privat, sondern auch bei öffentlichen Auftritten. Und in seinem Büro sei die israelische Fahne gehangen. „Er zog das beinhart durch.“ Am 12. Mai, gleich nach Erscheinen meiner Recherche „Fang mich, wenn du kannst“, bekam ich ein Mail von Bernhard Purin. Ich hatte ihn als Kurator des Jüdischen Museums der Stadt Wien kennengelernt. Mitte der Neunzigerjahre ging er nach Deutschland, 2002 wurde er zum Gründungsdirektor des Jüdischen Museums München berufen. Er schrieb, dass ihn „die Annahme einer jüdischen Identität elektrisiert“ habe, weil dieses Phänomen in Österreich, soweit er es überblicke, noch kein Thema war, in Deutschland aber schon: „Es geht darum, sich moralisch unangreifbar zu machen, und das ist natürlich dann besonders nötig, wenn man etwas zu verbergen hat.“ Schon in den Fünfzigerjahren hätte es „angebliche Schoah-Überlebende gegeben, die sich als Nichtjuden herausgestellt haben“.
Jüdisch fühlen
Auf Nachfrage wies er mich auf den Fall Wolfgang Seibert hin. Im Oktober 2018 hatte der Spiegel unter dem Titel „Der gefühlte Jude“ berichtet, dass der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Pinneberg (bei Hamburg) gar kein Jude, sondern ein Hochstapler sei. Seibert vertrat ein liberales Judentum und war bekannt für sein politisches Engagement. Als Stimme gegen rechten wie linken Antisemitismus sei er regelmäßig Gesprächspartner der Medien gewesen. Schlagzeilen machte er, nachdem er mit seiner Gemeinde im Sommer 2014 einem muslimischen Flüchtling „Kirchenasyl“ gewährt hatte.
Seibert sei aber, so das Nachrichtenmagazin, am 16. August 1947 als Sohn evangelischer Eltern in Frankfurt geboren und drei Tage später getauft worden. Dessen Behauptung, seine Großmutter sei Auschwitz-Überlebende, stimme nicht. Erstaunlicherweise soll das Rabbinergericht es abgelehnt haben, die „Jüdischkeit“ Seiberts anzuzweifeln. Und Seibert hätte gesagt, dass es für ihn immer entscheidend gewesen sei, sich als Jude „gefühlt“ zu haben.
Die taz berichtete damals groß über die Spiegel-Recherchen von Martin Doerry und Moritz Gerlach. Und sie zitierte u.a. den Journalisten und Historiker Johannes Spohr, der 2017 das Buch Verheerende Bilanz: Der Antisemitismus der Linken veröffentlicht hatte, in dem es unter anderem auch um Seibert geht. Er stieß sich an der Behauptung, dass, wer sich in Deutschland in eine jüdische Identität flüchte, damit rechnen dürfe, unangreifbar zu sein. Aber: „Es ist in der Tat interessant, den Motivationen von Menschen nachzugehen, die sich fälschlicherweise als jüdisch beziehungsweise Nachfahre von Holocaust-Opfern ausgeben“, erklärte Spohr. „Dies kann unter anderem in dem Wunsch nach Entlastung und Schuldabwehr nichtjüdischer Deutscher begründet liegen.“
Ende Oktober 2018 trat Wolfgang Seibert, so die Jüdische Allgemeine, als Vorsitzender zurück. Er wolle nicht, dass die Gemeinde Pinneberg, die er mit so viel Herzblut aufgebaut habe, beschädigt werde. Und Seiberts Anwalt sagte, dass sein Mandant immer jüdisch gelebt habe, „einen Religionswechsel oder eine andersartige religiöse Orientierung“ hätte es nie gegeben. Und: „Es besteht kein Interesse an einer öffentlich geführten Debatte über die Frage, wer legitimes Mitglied einer jüdischen Gemeinde sein darf und wer nicht.“
Am 30. August 2019 berichtete das Hamburger Abendblatt, dass „Doktor Seibert“ auf Bewährung verurteilt worden sei. Er habe den Titel zu Unrecht getragen. „Es war nicht die einzige Lüge in seinem Leben.“
Identitätsannahme
Da tun sich erstaunliche Parallelen zu Axel Spörl auf. Die an Bundestheater- Chef Christian Kircher übermittelte Promotionsurkunde war, wie Stefan Weber und ich – auch mit Hilfe eines Latein-Professors – darlegen konnten, ziemlich plump gefälscht. Die Universität Würzburg bestätigte dies und kündigte eine Anzeige an. Spörl trat schließlich zurück. Beziehungsweise: Er wurde fristlos entlassen.
Zuvor aber hatte sich noch etwas Sonderbares ereignet. Denn Spörl war ja, trotz Warnhinweisen des Kurier, ein paar Tage Geschäftsführer. Er brillierte mit logischem Denken wie rascher Auffassungsgabe. Und er erzählte jedem, der es hören wollte, seine jüdische Familiengeschichte. Er machte allerdings einen gravierenden Fehler: Spörl bezeichnete sich als „Halbjude“. Und das ist NS-Diktion.
Im Mailverkehr schreibt Purin: „Ich halte Philosemitismus für eine der effizientesten Formen des Antisemitismus.“ Und: „Die Annahme einer jüdischen Identität hat natürlich nicht nur mit Philosemitismus zu tun, sondern auch mit dem Wunsch, eine Opferbiografie anzunehmen. In beiden Fällen stellt sich der ‚Täter‘ über die Juden, bei Philosemitismus in herablassend fürsorglicher Art (‚Ich weiß, was für euch gut ist‘), bei der Identitätsannahme in anmaßender Weise.“
Purin wies mich noch auf einen weiteren Fall in Deutschland hin. Es geht um die Historikerin und Bloggerin Marie Sophie Hingst, geboren 1987 in Wittenberg. Sie studierte Geschichte und Ostasienwissenschaften in Berlin, Lyon und Los Angeles. Ihr Masterstudium schloss sie 2013 ab, danach begann sie in Dublin ihre Doktorarbeit. Hingst arbeitete als Freiwillige beim Roten Kreuz und war ein langjähriges Mitglied des Förderkreises „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Berlin.
Unter Pseudonym
In ihrem 2013 gegründeten Blog Read on my dear, read on berichtete Hingst, wie auf Wikipedia nachzulesen ist, in Form von Kurzgeschichten unter anderem über ihre angeblich jüdische Familie, die mehrere Vorfahren im Holocaust verloren haben soll. Ebenso erzählte sie dort Geschichten über ihre Arbeit als Krankenschwester. Ab dem Frühjahr 2017 veröffentlichte sie in sozialen Medien täglich Postkarten an politisch Inhaftierte in der Türkei. 2018 wurde Hingst zur „Bloggerin des Jahres 2017“ gewählt und erhielt einen der sechs Preise des Future-of-Europe-Projekts.
Ende Mai 2019 deckte Martin Doerry im Spiegel nach Recherchen eines Teams rund um die Berliner Historikerin Gabriele Bergner auf, dass Hingsts Erzählungen über ihre Familiengeschichte nicht der Wahrheit entsprachen. Obwohl sie einer evangelischen Familie entstammte, hätte sie bei Yad Vashem Dokumente eingereicht, die belegen sollten, dass Angehörige Opfer des Holocaust geworden seien. Es hätte sich aber herausgestellt, dass ihre Urgroßeltern Hermann und Marie Hingst keine Juden war. Ihr Großvater, der Auschwitz-Häftling gewesen sein soll, arbeitete in Wahrheit als evangelischer Pfarrer.
Darüber hinaus hatte Hingst behauptet, 2007 als 19-Jährige eine Slum-Klinik in Neu-Delhi gegründet und dort Sexualaufklärung angeboten zu haben. Und 2017 publizierte sie einen Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit, in der sie berichtete, syrische Flüchtlinge in einer Arztpraxis aufgeklärt zu haben. Und zwar unter dem Pseudonym Sophie Roznblatt, weil sie vorgab, dass es für sie zu gefährlich sei, ihren echten Namen zu verwenden. Auch diese Geschichten stellten sich als erfunden heraus.
Im Juni 2019, kurz nach der Enthüllung, wurde Hingst der Titel „Bloggerin des Jahres 2017“ aberkannt. Und am 17. Juli 2019 fand man Hingst in ihrer Wohnung in Dublin tot auf. Die Polizei schloss Fremdverschulden als Ursache aus. Vor ihrem Tod hatte Hingst gegenüber Derek Scally, einem Journalisten der Irish Times, angegeben, dass sie sich durch den Spiegel-Artikel wie „lebendig gehäutet“ fühle.
Wahrste Erlebnisse
Medien berichteten ausführlich über die Geschehnisse und verwiesen auf den als „Wilkomirski-Syndrom“ bekannt gewordenen Drang, jüdisches Opfer oder mit Opfern des Holocausts verwandt zu sein.
Ein Mann, der sich Binjamin Wilkomirski nannte, veröffentlichte 1995 im Jüdischen Verlag (Suhrkamp-Gruppe) das Buch Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948. Sehr fragmentarisch berichtet ein Ich-Erzähler Erlebnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus. Als früheste Erinnerung schildert der Autor, wie er als jüdisches Kind in Riga der Ermordung eines Mannes, möglicherweise seines Vaters, durch „Uniformierte“ habe zusehen müssen. Er hätte sich danach mit seinen Brüdern auf einem Bauernhof in Polen verstecken können, sei verhaftet worden und in zwei Konzentrationslager gekommen. Im ersten Lager sei er seiner sterbenden Mutter begegnet. Nach der Befreiung sei er zunächst in ein Waisenhaus nach Krakau und dann in die Schweiz verbracht worden. Dort habe er erst durch jahrzehntelange Nachforschung seine Vergangenheit rekonstruieren können.
Bruchstücke wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Gelegentlich habe man, so der Beitrag auf Wikipedia, den Autor mit Elie Wiesel, Anne Frank oder Primo Levi verglichen. Und Ruth Klüger berichtete 2008, dass der Leiter des Jüdischen Verlags ihr gegenüber Wilkomirskis Erinnerungen als das „wahrste, beste, eigentliche Erlebnisbuch eines Kindes, das den Holocaust überlebt hat“ bezeichnet habe.
Der Autor trat bei vielen Gelegenheiten als Zeitzeuge und Experte auf, sei es vor Schulklassen, in den Medien oder bei wissenschaftlichen Veranstaltungen zur Schoah und zu deren Folgeproblemen (etwa zur fehlenden Identität von Überlebenden, die während des Holocausts noch im Kindesalter waren). Bei seinen Auftritten präzisierte Wilkomirski vieles, das im Vagen geblieben war. So nannte er die Namen der KZs (Majdanek und Auschwitz) und erwähnte, dass er Opfer bestialischer Menschenversuche gewesen sei.
Hohe Wellen
Ende August 1998 behauptete der Schweizer Autor Daniel Ganzfried, Sohn von Holocaust-Überlebenden, in der Weltwoche, dass Wilkomirski in Wahrheit Bruno Grosjean heiße und der uneheliche, 1941 in Biel geborene Sohn von Yvonne Grosjean sei. Nach einem Aufenthalt in einem Waisenhaus in Adelboden sei er vom Ehepaar Dössekker aus Zürich adoptiert worden. Die KZs kenne jener nur als Tourist. Die Enthüllungen schlugen hohe Wellen.
Der Zürcher Historiker Stefan Mächler konnte im Jahr darauf in einer umfangreichen Expertise nachweisen, dass Bruchstücke nicht auf realen Erlebnissen basiert: Bruno Grosjean habe sich seine fiktive Lebensgeschichte über Jahrzehnte zusammenphantasiert. Auslöser könnte eine Therapie gewesen sein, die ihm helfen sollte, verdrängte Erinnerungen wiederzuerlangen.
Das Buch wurde im Herbst 1999 vom Markt genommen, ein Rechtsanwalt erstattete gegen Dössekker Strafanzeige wegen gewerbsmäßigen Betrugs. Im Rahmen der Ermittlungen wurde der Autor einem DNA-Test unterzogen, der zweifelsfrei seine Schweizer Herkunft bestätigte: Er ist der Sohn eines Feinmechanikers.
2001 fand im Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrum eine Tagung statt, die sich mit den aufgeworfenen Fragen beschäftigte. Im Jahr darauf erschienen die Beiträge in einem von Irene Dieckmann und Julius H. Schoeps (Gründungdirektor des Jüdischen Museums der Stadt Wien) herausgegebenen Sammelband mit dem Titel Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Ob es sich aber tatsächlich, wie beim „Münchhausen-Syndrom“, um ein psychiatrisches Krankheitsbild handelt?
Gesellschaftliches Phänomen
Zumindest handelt es sich um Eine deutsche Krankheit. So nannte Schoeps einen ausführlichen Beitrag mit dem Untertitel Von der Sehnsucht und dem drängenden Verlangen, ein ,jüdisches‘ Opfer zu sein (erschienen im Juli 2019 auf www.compass-infodienst.de als Reaktion auf den Hingst-Selbstmord). Auch Axel Spörl, 1971 in Regensburg geboren, ist Deutscher.
Schoeps stellt zahlreiche Fälle vor, darunter einen geradezu irrwitzigen, der sich in der DDR ereignete: Die Tochter eines SS-Mannes wurde 1968 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle/Saale. In einer selbstentworfenen Rabbinertracht leitete Karin Mylius Gottesdienste – in einer Phantasiesprache, da sie des Hebräischen nicht mächtig war. Und sie schmückte sich mit dem fiktiven Titel „Dr. theol.“. Mitte der Siebzigerjahre bestattete sie ihre protestantischen Eltern auf dem jüdischen Friedhof, der somit nach rituellem Verständnis entweiht wurde. Ihren Sohn Frank-Chaim, der bis dahin nur durch Hakenkreuz-Schmierereien aufgefallen war, schickte sie auf das Budapester Rabbiner-Seminar. Wegen wiederholten Diebstahls aus der Bibliothek des Seminars musste er dieses bald wieder verlassen. Derweil verscherbelte die Mutter die Kultgegenstände der Gemeinde. Ihre Mitgliedschaft bei der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) schützte Mylius lange vor Konsequenzen.
Schoeps’ Conclusio: „Man kann die geschilderten Fälle zweifellos nicht alle über einen Leisten schlagen, sollte sie aber als das ansehen, was sie tatsächlich sind – Phänomene einer Gesellschaft, die geradezu traumatisch an ihrer Vergangenheit leidet. Die Unfähigkeit, sich der eigenen NS-Vergangenheit oder derjenigen der Eltern oder Großeltern zu stellen, gleitet zunehmend in Dimensionen ab, die als krankhaft bezeichnet werden müssen. Der Chronist, der die Zeitläufte beobachtet und der solche Entgleisungen, wie die geschilderten, zur Kenntnis nimmt, kann eigentlich nur noch staunend den Kopf schütteln und sich wundern über das, was in unserer heutigen Welt an Absurditäten so alles möglich ist.“
PS: Warum die IKG in Wien nichts gegen Spörl unternahm, verstehe ich bis heute nicht. Möglicherweise gilt auch in diesem Fall der Satz von Seiberts Anwalt: „Es besteht kein Interesse an einer öffentlich geführten Debatte über die Frage, wer legitimes Mitglied einer jüdischen Gemeinde sein darf und wer nicht.“