Seit dem Jahr 1943 treffen sich jeden Mittwoch deutsche und österreichische Emigranten bei einem Stammtisch in New York, der von Oskar Maria Graf gegründet wurde. Gesprochenwird nur deutsch.
VON PETER WEINBERGER (TEXT UND FOTOS)
Welcher Bezirk? Diese Frage wird sofort an den Neuankömmling gestellt, der sich mit dem Hinweis, aus Wien zu kommen, vorgestellt hat. Wo? Beim Stammtisch natürlich, der jeden Mittwoch um 20 Uhr in der winzigen Wohnung von Gaby Glückselig in der Upper East Side von New York stattfindet. Für Kurt Sonnenfeld, einen der stets Anwesenden, ist die Frage wichtig, da die Antwort darauf weitere Fragen nach dem sozialen Umfeld zu erübrigen scheint. Außerdem ist fast immer in den letzten Jahren die Mehrheit der Anwesenden ohnedies aus Wien.
Der Stammtisch wurde vor mehr als 70 Jahren von Oskar Maria Graf und anderen Emigranten in New York gegründet. Anfangs traf man sich mehrmals in der Woche in Restaurants, zum Teil auch, da in Folge von Rationierungen Fleischgerichte nur dort erhältlich waren. Mitbegründer war u.a. der aus Wien stammende Mann von Gaby, Fritz Glückselig, ein Antiquitätenhändler und Schriftsteller, als solcher später unter dem Pseudonym Fritz Bergammer bekannt.
In späteren Jahren frequentierte man Emigranten-Cafés, seit vielen Jahren ist es nun Gabys Wohnung. Sie feierte heuer im April ihren hundertsten Geburtstag mit einer Party im Leo Baeck Institut. Gaby scheint stets in sich versunken den anderen zuzuhören. Vor ihr steht eine Glocke, um die Teilnehmer der Runde zu erinnern, nicht durcheinander zu schwätzen, doch diese verwendet sie immer seltener. Zu ihrem Geburtstag widmete sogar Der Spiegel Gaby ein „Feature“. Über sie, die ursprünglich aus einer sehr begüterten Wiesbadener Familie stammt, und ihren Mann ist in den letzten Jahren auch in den Printmedien wiederholt berichtet worden, da es der Stammtisch im Lauf der Jahre zu einiger Berühmtheit gebracht hat.
„Erinnert ihr euch an den …“
Und so funktioniert es: Jeder und jede bringt etwas zum Essen oder Trinken mit. In der Regel kommen auch alle in New York tätigen Gedenkdiener, die sich in bewundernswerter Art und Weise ihrer betagten Freunde annehmen. Ein Netz von ehemaligen Gedenkdienern scheint den Stammtisch zu umgeben, denn immer wieder wird eine Postkarte oder eine E-Mail mit der Einleitung „Erinnert ihr euch an den …“ vorgelesen. Gelegentlich sind auch Volontäre im Österreichischen Kulturforum oder Generalkonsulat oder andere deutsche bzw. österreichische Jugendliche zu Gast.
Es sind rund 60 bis 70 Jahre, die die beiden hauptsächlich anwesenden Gruppen im Alter voneinander trennen. Gesprochen wird ausschließlich deutsch (meist mit Wiener Akzent), und alle Gäste sind untereinander „per du“. Zu den altersmäßigen Ausnahmen gehört insbesondere Thomas Strasser, ein an einer New Yorker High School unterrichtender österreichischer Mathematik- und Physiklehrer, der u.a. 2013 Gabys Sachwalterschaft übernommen hat. Die Familiarität des Umgangs miteinander bewirkt, dass vielfach Familiennamen in Vergessenheit geraten sind. Da, wie gesagt, die Wiener meistens dominieren, muss gelegentlich sogar ein typisch wienerischer Ausdruck für die „anderen“ übersetzt werden.
Jeder einzelne der anwesenden „Ehemaligen“ kann mit Geschichten aus der Vergangenheit aufwarten. Miriam (Merzbacher) zum Beispiel, kaum 1,40 m groß, musste als Kind in Theresienstadt Glimmer in Plättchen für die NS-Flugzeugindustrie spalten. Sie, die ursprünglich aus Berlin stammt und deren Familie zunächst nach Holland übersiedelte, hat Glück gehabt, da nach dem Krieg die holländischen Nachbarn den Überlebenden ihrer Familie das zur Verwahrung übernommene Eigentum zurückgaben. Miriam ist trotz ihres Alters quirlig und stets zu Späßen aufgelegt. Oder Trudy (Jeremias), die aus Wien stammt, sogar nach dem Krieg einige Zeit wieder dort gelebt hat und sich nun um die Organisation des Stammtisches kümmert. Ohne sie würde der Stammtisch bereits der Vergangenheit angehören.
Der schon erwähnte Kurt (Sonnenfeld), ein pensionierter Erziehungswissenschaftler, ist zeit seines Lebens ein glühender Sozialdemokrat geblieben. Er stammt aus der Brigittenau, sein Vater war ein sozialdemokratischer Vertrauensmann, und genau deshalb ist ihm die Frage nach dem Bezirk so wichtig. Im Jahr 2012 haben wir gemeinsam eine 1.-Mai-Feier im Central Park abgehalten. Kurt ist selbstverständlich im Blauhemd der Roten Falken erschienen. Selbst die roten Nelken durften nicht fehlen.
Wohnzimmer auf der Upper East Side
Arnold (Greissle-Schönberg) ist der älteste Enkel von Arnold Schönberg. Seine Mutter war jenes kleine Mädchen, das gemeinsam mit Mathilde Schönberg (Zemlinsky) auf dem weltberühmten Bild von Richard Gerstl im Leopold-Museum zu sehen ist. Da Arnold seine Kindheit im Hause seines Großvaters verbracht hat, erzählt er mitunter eine der vielen kleinen Geschichten von damals – über seinen Großvater, über Kokoschka oder auch Anton von Webern. Sein Vater und Hanns Eisler waren zur gleichen Zeit Schüler von Arnold Schönberg.
An einem Abend im Monat gibt es Palatschinken, natürlich mit Marillenmarmelade gefüllt. Zubereitet werden sie von Arnold in Gabys winziger Küche und serviert von Kurt. Klarerweise ist dieser Abend am besten frequentiert. Aber auch sonst drängen sich bis zu 20 Leute in dem kleinen Wohnzimmer auf der Upper East Side. Zunächst gibt es eine Reihe von Sesseln um den runden Tisch, doch bald muss die Runde durch eine zweite Reihe erweitert werden. Zuspätkommende müssen mitunter damit rechnen, nur mehr im Stehen teilnehmen zu können.
Der Wienbezug ist stets spürbar. Marion (House) zum Beispiel, ursprünglich aus Berlin stammend und noch immer ein ausgewählt schönes Deutsch sprechend, war mit einem Wiener verheiratet und daher mit den deftigen Wiener Gebräuchen durchaus vertraut. Marion ist eine kultivierte alte Dame, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters nach wie vor von ihrer Wohnung in Riverdale mit dem Auto zum Stammtisch kommt. „Früher war ich viel größer“, bemerkt sie stets bedauernd, obwohl sie wirklich nicht die Kleinste unter den Anwesenden ist.
Gelegentlich kommt Michael (Spudic) mit seiner Ziehharmonika vorbei. Zum Erstaunen der anwesenden Jugendlichen kennen die „Alten“ die Texte zu allen Liedern bis zur letzten Strophe und singen begeistert mit. Meist allerdings wird brav diskutiert, von Gabys Glocke immer seltener resolut zur Rückkehr zu einem vorgegebenen Thema gemahnt. Da steht dann Obama im Mittelpunkt oder die Borniertheit der Republikaner, aber auch deutsche und österreichische Innenpolitik wird fleißig kommentiert. Die Gedenkdiener berichten manchmal von ihrer Arbeit, oder Margot (Wellmann-Scharpenberg), die nun teilweise wieder in Deutschland lebt, liest eines ihrer neuen Gedichte vor. Und Arnold („von meinem Großvater habe ich die Glatze und ein gutes Gehör geerbt“) erweist sich, wenn es sich gerade ergibt, als großartiger polyglotter Sprachenimitator.
Die Gedenkdiener kommen übrigens nicht nur aus Wien, sondern auch aus kleineren oder größeren Städten in Österreich und haben einiges an Motivation mitgebracht. So auch Patrick (Gyasi), der bisher einzige afro-österreichische Gedenkdiener, der ein typisches Wiener Gymnasiumdeutsch spricht. Sie alle sorgen für das äußerlich jugendliche Klima beim Stammtisch, die „Alten“ sind ohnedies geistig jung geblieben.
Rückblicke in die Vergangenheit werden meist mit der Frage „Hast du den (die) gekannt?“ eingeleitet, klarerweise unbewusst Generationen überspringend. Insbesondere Hawei (Hans Weiss), seit seiner Zeit in der (New Yorker) Austrian Youth in den 50er-Jahren „mit dabei“, liebt solche Fragen. Sie helfen ihm beim Erinnern.