Dr. Ruth Westheimer ist eine der prominentesten und gewiss humorbegabtesten Sexualtherapeutinnen und Sexpertinnen weltweit. Dass sie auch in ihren Neunzigern immer noch guten Rat für besseren Sex gibt, hätte sie selbst nicht gedacht. Ein Porträt.
Ein Kongress in New York zum Thema Judentum in einer säkularen Gesellschaft. Das Podium ist hochkarätig besetzt, etwa mit Dalia Rabin-Pelossof, Tochter des 1995 ermordeten israelischen Ministerpräsidenten und Friedensnobelpreisträgers Jitzchak Rabin; und mit Chelsea Clinton, Tochter von Ex-US-Präsident Bill und der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton. Doch so richtig umschwärmt und umlagert wird jene Frau, die nicht nur über ihr Jüdischsein spricht, sondern vor allem darüber, dass befriedigender Sex ein jüdisches Gesetz ist.
Immer noch hält die Verfasserin von mehr als vierzig Liebes- und Sexratgebern (darunter Sex for Dummies und Mythen der Liebe) Vorlesungen und tritt in Talkshows auf. Über ihre nimmermüde Energie scheint sie selbst ein wenig erstaunt: „Wenn mir jemand gesagt hätte, dass ich sogar noch mit über neunzig von morgens bis abends über Sex spreche, hätte ich gesagt: ich nicht.“ Blatt vor den Mund nimmt sich Westheimer, die sich selbstironisch als „1 Meter 40 konzentrierter Sex“ bezeichnet und mit zweideutigem Zwinkern anfügt, dass Qualität in keinem Fall von der Größe abhänge, keines.
Wie beim Kochen
So selbstverständlich wie andere über ein Kochrezept redet sie über die anatomische Beschaffenheit der Frau, vorzeitigen Samenerguss, ungewollte Schwangerschaften oder Erektions- und Orgasmusprobleme. Die Dinge beim Namen zu nennen, erachtet sie als wichtigsten Schritt zu erfüllender Sexualität. Und das klingt dann so: Sie habe immer gesagt, dass Masturbation die einzig wahre Form des Safer Sex sei, „aber jetzt, wo Leute offenbar auch im Auto masturbieren, stimmt das wohl nicht mehr“. Dass sie über Sex so offen sprechen könne, rühre daher, dass sie sehr jüdisch sei: „Im Judentum ist die Sexualität in der Ehe sehr wichtig.“
Dass Ruth Westheimer nicht nur eine der berühmtesten, sondern auch eine der humorbegabtesten Sexpertinnen ist, beweist der im Vorjahr in die Kinos gekommene, hinreißende und in jeder Hinsicht aufschlussreiche Dokumentarfilm Ask Dr. Ruth (Regie: Ryan White). Geboren wurde die berühmte Sexspezialistin 1928 als Karola Siegel in eine jüdisch-orthodoxe Familie im deutschen Wiesenfeld bei Karlstadt. Schon als kleines Mädchen schmökerte das Einzelkind heimlich in einem Ehe-Ratgeber mit einschlägigen Zeichnungen ihrer Eltern: „Ich habe gesehen, dass der Mann und die Frau gelacht haben auf dem gezeichneten Bild und gedacht: Die haben es gut miteinander.“ Doch ihre unbeschwerte Kindheit wurde von den Nazis abrupt beendet. Als sie zehn war, entkam sie mit einem Kindertransport in die Schweiz, sie überlebte das Dritte Reich in einem Appenzeller Waisenhaus; ihre Eltern und ihre Großmutter wurden in Auschwitz ermordet.
„Ich habe ein Problem mit den Holocaust-Leugnern, und – schlimmer noch – mit denen, die es müde sind, darüber zu reden“, sagte sie einmal in einem Kurier-Interview: „Wir müssen über die Vergangenheit reden, sonst lernen wir nichts. Ich spreche nie über Politik, weil Sex und Politik sich nicht vertragen. Aber wenn ich sehe, wie kleine Kinder an der mexikanisch-amerikanischen Grenze von ihren Eltern getrennt werden, kann ich nicht schweigen. Ich habe das am eigenen Leib erlebt. Und wir wurden nicht in Käfigen gehalten, sondern bei guten Familien untergebracht.“ Sie selbst habe den Deutschen verziehen. „Ich habe ja gesiegt: Ich habe überlebt!“
1945 schloss sie sich in Palästina der zionistischen Untergrundorganisation Haganah an, wurde Scharfschützin, kämpfte im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 und wurde so schwer verwundet, dass lange unklar war, ob sie je wieder gehen können würde.
Mit ihrem ersten Mann ging sie nach Paris, kümmerte sich im Rahmen einer jüdischen Organisation um Holocaust-Waisen und studierte Psychologie an der Sorbonne; sie ließ sich scheiden und dampfte mit ihrem Geliebten (und späteren zweiten Ehemann) mit dem Schiff nach New York ab, wo sie Soziologie und Sexualwissenschaft an der Columbia University studierte, im Alter von 42 Jahren den Doktor machte – und schließlich ab 1980 als „Dr. Ruth“ zu einem Emblem der sexuellen Aufklärung in den USA und zu einer wichtigen Stimme in der AIDS-Krise wurde. Sie beglückte ein Millionenpublikum Sonntag nachts mit Sexually Speaking zunächst im Radio, dann im Fernsehen. Die große kleine Frau sprach mit Prominenten und Zuschauern gleichermaßen ungeniert über Stellungswechsel, extravagante Vorlieben, sexuelle Langeweile, Verhütungsmethoden und sexuelle Gesundheit: „Ich glaube an sexuelle Aufklärung. Ich glaube daran, dass anhand wissenschaftlicher Erkenntnisse gelehrt werden muss und daran, dass man sie mit einer gewissen Portion Humor vermitteln sollte.“
Ihr Spitzname „Grandma Freud“, ihr deutsch-hebräischer Akzent, ihre kleine Statur und ihr immer gleicher Kleidungsstil – bevorzugt in weinrot und orange – sowie der typische Haarschnitt machten sie zu einem Phänomen der amerikanischen Popkultur. Das Wall Street Journal nannte Westheimer einmal eine Mischung aus Henry Kissinger und Minnie Maus, für den Playboy war sie eine der weltweit wichtigsten Instanzen in Sexfragen. Ach ja, weltweit: „Auf der ganzen Welt“, konstatiert sie, „stellt man mir die gleichen Fragen.“
Umso besser im Bett
Dass sie eine gute Sexualtherapeutin geworden sei, hänge sicherlich mit ihrem Jüdischsein zusammen, denn „in der jüdischen Tradition war Sex nie eine Sünde, sondern immer eine Pflicht zwischen den Partnern. Natürlich nicht zwischen Wildfremden auf der Straße!“ In den Schriften gebe es ganz klare Anweisungen zum Sex, ja, sogar zu seiner Häufigkeit. Und wenn ein jüdisches Ehepaar am Freitagabend zu Beginn des Sabbats miteinander schlafe, erfülle es damit eine der 613 Vorschriften der jüdischen Weisen. Außerdem, und das gefällt Ruth Westheimer ganz besonders gut, gebe es auch die in den Schriften festgelegte Pflicht des Ehemannes, seine Frau zu befriedigen. „Ich sage nie, dass jüdische Leute besseren Sex haben. Ich sage nur, dass ich als Sexualtherapeutin und -erzieherin so offen sprechen kann, weil ich sehr jüdisch bin“, erläuterte sie einmal in einem Interview, „und dass glückliche Menschen, egal welcher Glaubensrichtung, besseren Sex haben.“ Aber dafür müssten die Menschen noch einiges lernen.
An einer Beziehung zu arbeiten, ihr Zeit zu geben, sich an ihr zu erfreuen, statt zu denken, dass es irgendwo noch eine Bessere oder einen Besseren gibt: all das hält Westheimer, die Mozarts Kleine Nachtmusik liebt, sich selbst als „nicht radikale Feministin“ bezeichnet, die Pro-Choice- und LGBTQ-Bewegungen unterstützt, für die Essenz der Sexualität: „Wenn du jemanden hast, der auf dich am Abend wartet, dann freu dich darüber, nimm das nicht als selbstverständlich hin.“ Je besser die Kommunikation zwischen den Partnern, umso besser funktioniere es im Bett: „Besonders die Jüngeren verlieren allmählich die Fähigkeit, eine richtige Konversation zu führen. Alle hängen nur noch am Handy. Dadurch geht die Intimität im Bett verloren. Die jungen Menschen vergessen, dass der Orgasmus nicht nur auf körperlicher Aktivität basiert. Sexualität ist immer auch ein Akt der Intimität.“
Sie selbst, sagt die Grande Dame der Sexberatung, habe zwei wunderbare Liebschaften durch eien Ehe „legalisiert“. Aber erst ihr dritter Mann, mit dem sie 38 Jahre verheiratet war, war wirklich ihr Mister Right: „Das war der Mann meines Lebens. Leider ist er schon vor mehr als zwanzig Jahren gestorben. Jede Person sollte einen Menschen finden, zu dem sie sagen kann: Das ist der Richtige.“