Die große Koalition in Israel hätte die Chance, eine neue Innen- und Außenpolitik zu gestalten. Gemessen werden wird sie an ihren Fortschritten beim Friedensprozess mit den Palästinensern.
Von Johannes Gerloff, Jerusalem
Am späten Montagabend des 7. Mai 2012 hegte niemand mehr Zweifel, dass in Israel Neuwahlen angesagt waren. Der 4. September stand als Wahltag bereits fest. Doch während das israelische Parlament über seine Selbstauflösung beriet, verhandelten die politischen Erzfeinde Benjamin Netanjahu und Schaul Mofas unbeachtet hinter verschlossenen Türen. In den Wochen zuvor hatte der neu gewählte Kadima-Chef Mofas die Regierung Netanjahu noch als „scheiternde Regierung“ bezeichnet, der er sich niemals anschließen werde und den Regierungschef öffentlich als „Lügner“ beschimpft. Doch dann traten die beiden in den ersten Stunden des 8. Mai vor die Presse und verkündeten ihre Regierung der nationalen Einheit. Selbst chronisch kritische Kommentatoren äußerten sich erstaunt-bewundernd über „Bibis Schachzug“ und räumten ein, die strategischen Fähigkeiten des Premiers unterschätzt zu haben.
Drei Urteile des Obersten Gerichtshofs Israels hatten Netanjahu zu Neuwahlen bewogen. Zwei betrafen israelische Siedlungen, in denen Häuser widerrechtlich auf palästinensischem Privatland gebaut worden waren. Die obersten Richter verlangten, diese Gebäude müssten bis 1. Juli respektive 1. August verschwinden. Netanjahu sah sich in der Zwickmühle: Entweder die Siedler verprellen, oder sich gegen den Gerichtsbeschluss stellen und eine beträchtliche Einbuße an Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit in Kauf nehmen.
In einem weiteren Entscheid hatte das Oberste Gericht das sogenannte „Tal-Gesetz“ aus dem Jahr 2002 für verfassungswidrig befunden und bestimmt, die Knesset habe bis zum 1. August eine grundgesetzkonforme Regelung zu finden. Das Tal-Gesetz befreit Talmudschüler vom Wehrdienst, eine Regelung, die bereits seit der Staatsgründung besteht. Die Gleichstellung beim Militärdienst hätte Netanjahu mit einer Regierungskrise bezahlt. Im Falle einer Änderung der Regelung drohen seine ultraorthodoxen Koalitionspartner mit Widerstand. Eine Beibehaltung dieser Ungleichbehandlung verärgert aber seine säkulare und national- religiöse Wählerschaft, die sich von ultraorthodoxen und arabischen Staatsbürgern ausgenutzt fühlt.
Die langjährige Oppositionsführerin Zippi Livni hatte sich in den vergangenen Jahren mit ihrer Rhetorik gegen Netanjahu so weit verstiegen, dass ein Schulterschluss mit dem ideologisch eigentlich eng Verwandten unmöglich schien. Ende März wurde Schaul Mofas, ehemaliger Generalstabschef und Verteidigungsminister, zum Kadima-Vorsitzenden gewählt. Aktuelle Umfragen prophezeiten der Partei bei einem Urnengang einen Absturz von 28 auf zwölf Abgeordnete. Deshalb sprang Mofas zur Rettung seiner Partei über den eigenen Schatten und erklärte sich zur Koalition bereit.
Benjamin Netanjahu steht nun der breitesten Koalition in der Geschichte Israels vor, hat sieben Parteien vereinigt und 94 von 120 Abgeordneten hinter sich. Als Opposition bleiben unter der Führung der Sozialistin Schelly Jachimowitsch noch 26 Abgeordnete aus sechs Parteien.
Der Koalitionsvertrag spricht von „historischen Herausforderungen“, die eine breite Regierungsbasis erfordern und setzt vier Prioritäten: 1.) Ein neues Wehrdienstgesetz bis Ende Juli 2012; 2.) einen Staatshaushalt, der den sicherheits-, wirtschafts- und sozialpolitischen Herausforderungen gerecht wird; 3.) eine Reform des Regierungssystems bis Ende 2012 und 4.) den Friedensprozess mit den Palästinensern. Ferner wurde vereinbart, dass Mofas stellvertretender Regierungschef und Mitglied im Sicherheitskabinett wird, Vorsitzender des Außen- und Verteidigungskomitees der Knesset bleibt und seine Partei das Finanzkomitee sowie einen weiteren permanenten Arbeitsausschuss im israelischen Parlament bekommt.
Israel wäre nicht Israel, wäre dieser politische Wetterumschwung auf der politischen Bühne des jüdischen Staates nicht von heftiger Kritik begleitet gewesen. Reflexartig wetterte die frischgebackene Oppositionsführerin Jachimowitsch gegen das „Bündnis von Feiglingen“. In der Likud-Fraktion, die der großen Koalition eigentlich einstimmig entsprochen hatte, wurden Stimmen laut, man solle die Kadima nicht „an den Tropf hängen, nachdem sie sich zu Tode geblutet“ habe. Andere befürchteten eine „Diktatur der Mehrheit“. Offensichtlich haben sich einige Israelis so an ein politisches System gewöhnt, in dem ein Premier seine Politik nur mit Tricks und Zugeständnissen an Minderheiten durchsetzen kann, dass sie Instabilität und Demokratie gleichsetzen.
Aber so richtig wollten die Argumente gegen eine große Koalition nicht kommen. Mehrere Knessetabgeordnete aus ganz unterschiedlichen Parteien hatten ihr Unverständnis für Neuwahlen zum Ausdruck gebracht. Zu sehr entspricht die Einheitsregierung dem Wunsch einer breiten Bevölkerungsmehrheit, die schon vor drei Jahren auf eine große Koalition gehofft hatte.
Schon vor dem Schulterschluss von Likud und Kadima hatte Netanjahu die seit Jahrzehnten stabilste Regierung geleitet. Jetzt steht seine Koalition für die überwältigende Mehrheit der israelischen Bevölkerung. Ideologische Randgruppen und Interessenvertretungen, die bislang überproportional viel Macht besaßen, sind marginalisiert.
Mit der neuen Einheitsregierung wurde der Weg frei, komplexe Probleme, die seit Jahren lähmend auf Politik und Gesellschaft Israels wirken, effektiv anzugehen. So könnte das Duo Netanjahu-Mofas ultraorthodoxe Juden wie Araber zum Wehr- oder wenigstens Zivildienst verpflichten. Das viel beklagte rabbinische Übergewicht in der israelischen Politik und ungerechte finanzielle Zuwendungen an Randgruppen könnten korrigiert werden. Die Einführung einer Zivilehe wäre möglich und damit ein Ende der so laut bejammerten Diktatur von Rabbinern, Popen und Kadis.
Der marode Sozialvertrag innerhalb der israelischen Gesellschaft könnte saniert werden. Weitreichende Wirtschaftsreformen wären möglich, etwa ein Eingehen auf die Forderungen der Studentenproteste vom vergangenen Sommer nach bezahlbaren Wohnungen, Verbesserung der öffentlichen Verkehrsmittel und der Zerschlagung von Wirtschaftsmonopolen. Im gleichen Atemzug könnte die Riesenkoalition einen langfristigen Sparhaushalt verabschieden, der in der gegenwärtigen Weltwirtschaftslage dringend notwendig ist, ohne dass eine Partei dabei befürchten müsste, bei den nächsten Wahlen ausschließlich dafür verantwortlich gemacht zu werden.
Das Regierungssystem Israels könnte so neu gestaltet werden, dass Regierungen weniger erpressbar und stabiler würden. Eine Dreiviertelmehrheit in der Knesset könnte Mängel im Wahlsystem ausmerzen, die es bislang religiösen, ideologischen und wirtschaftlichen Randgruppen ermöglichten, die Regierung zu instrumentalisieren. Selbst Grundgesetzkorrekturen wären möglich. Netanjahu hat in den kommenden Monaten eine einzigartige Möglichkeit, Israel als jüdischem Staat und gleichzeitig als Demokratie eine stabile Rechtsgrundlage zu geben.
Last but not least hatte keine israelische Regierung jemals so viel Entscheidungsfreiraum in außenpolitischen Fragen. Das gilt im Blick auf den Iran, dessen Hauptstadt Teheran auch die Geburtsstadt von Schaul Mofas ist. Vergleiche mit der nationalen Einheitsregierung von Levi Eschkol und Menachem Begin am Vorabend des Sechstagekrieges 1967 drängen sich auf – sollten aber nicht vorschnell zur Interpretation herangezogen werden. Vor allem aber im Blick auf die palästinensisch-israelischen Beziehungen hat die Regierung Netanjahu so viel Handlungsfreiheit wie nie zuvor. Mit seinem Koalitionsmanöver hat der Regierungschef politische Falken auf beiden Seiten ins Abseits gespielt. Heikle Fragen wie Grenzstreitigkeiten, die Siedlungsfrage und seit Jahrzehnten ungelöste Rechtsstreitigkeiten könnten mit präzedenzloser Legitimation angegangen werden. Diese große Koalition ist die Chance der pragmatischen Mitte Israels, der allseits unbeliebten Besatzung ein Ende zu bereiten.
Mofas hat als bislang einziger israelischer Spitzenpolitiker einen konkreten Plan zur Lösung des Konflikts mit den Palästinensern vorgelegt. In zwei Schritten will er zuerst auf 60 Prozent der Westbank einen palästinensischen Staat gründen, um dann in einer zweiten Phase endgültige Grenzen auszuhandeln. Dies entspricht zwar noch längst nicht palästinensischen Wünschen, könnte aber Bewegung in den festgefahrenen politischen Prozess bringen. Mitte Mai erklärte Netanjahu in einem Brief an den palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, die neue Regierung biete eine Chance für den Friedensprozess. In der letzten Maiwoche kündigte Verteidigungsminister Ehud Barak an, man könne sich auch einen einseitigen Rückzug aus der Westbank vorstellen, sollten Gespräche mit den Palästinensern nicht zustande kommen. Postwendend konterte US-Außenministerin Hillary Clinton, direkte Gespräche seien der einzige Weg zum Ziel der Zweistaatenlösung – räumte aber ein, die neue große Koalitionsregierung biete die beste Gelegenheit seit Jahren, um ein Verhandlungsabkommen zu erreichen. Bleibt die Frage, ob Israel diese Chance nutzt – und ob die Partner auf der jeweils anderen Seite diese ebenfalls erkennen und nutzen wollen.