Die palästinensische Führung unter Präsident Abbas verfolgt gleichzeitig drei einander widersprechende Ziele. Der Friedensprozess mit Israel scheint an ein Ende gelangt zu sein.
Von Florian Markl
„Unsere Sache war noch nie so marginalisiert“, beklagte sich Salam Fayyad Ende Juli im Interview mit dem britischen Independent. Fayyad, der seit 2007 das Amt des palästinensischen Premierministers bekleidet, hat sich wie kein anderer vor ihm darum bemüht, die institutionellen Grundlagen für einen zukünftigen palästinensischen Staat zu schaffen. Nachdem internationale Beobachter letzten Herbst erklärten, die Palästinenser hätten in Folge der von Fayyad angetriebenen Reformen die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, um einen eigenen Staat führen zu können, sieht der Premier die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) vor ihrer bislang größten Herausforderung. Die Umwälzungen in der arabischen Welt, die Finanzkrise und die Krise der Eurozone sowie die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA hätten dazu geführt, dass der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern aus dem Fokus der internationalen Aufmerksamkeit gerückt und de facto zum Stillstand gekommen sei.
Dass der israelisch-palästinensische Konflikt momentan so aus dem Blickfeld geraten ist, lässt sich freilich nicht nur auf die von Fayyad angeführten Faktoren zurückführen, sondern hat vor allem auch hausgemachte Ursachen. Während ein großer Teil der arabischen Welt in den letzten eineinhalb Jahren in Bewegung geraten ist, ist bei den Palästinensern im Westjordanland Stagnation eingetreten. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die von Präsident Mahmud Abbas (im mittlerweile achten Jahr seiner vierjährigen Amtszeit) geführte PA sich in eine vertrackte Position manövriert hat, aus der sie nur schwer wieder herausfinden wird. Jede der ihr offenstehenden, einander aber widersprechenden Handlungsoptionen würde schwerwiegende Folgen zeitigen.
Internationalisierung
Ob es Enttäuschung darüber ist, dass nach fast zwei Jahrzehnten des auf Verhandlungen basierenden Friedensprozesses die Fortschritte weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben sind, oder ob an einem dauerhaften Frieden mit dem jüdischen Staat kein Interesse (mehr) besteht, sei dahingestellt. Fakt ist: Weder Abbas noch irgendein anderes Mitglied der palästinensischen Führung im Westjordanland glauben daran, dass Verhandlungen mit Israel zu einem aus palästinensischer Sicht akzeptablen Ergebnis führen werden. Die PA hat deshalb im Vorjahr den Weg der Internationalisierung des Konflikts bestritten: Mangels Aussicht auf eine verhandelte Zweistaatenlösung wandte sich Abbas vergangenen September an die „internationale Gemeinschaft“ in Form der Vereinten Nationen und stellte den Antrag, „Palästina“ als 194. Mitgliedsstaat anzuerkennen. Das Vorhaben war zum Scheitern verurteilt, weil die USA ankündigten, im zuständigen Sicherheitsrat ihr Veto einzulegen. Da der palästinensische Antrag ohnehin die erforderlichen neun Stimmen nicht erhalten hätte, wäre das aber gar nicht nötig gewesen.
Eine Anerkennung „Palästinas“ durch die Vereinten Nationen hätte zwar symbolische Wirkung gehabt, an der Situation im Gazastreifen und dem Westjordanland hätte sie aber wenig geändert. Letztlich führt für die Palästinenser kein Weg daran vorbei, sich mit den Israelis auf Rahmenbedingungen des täglichen Lebens zu verständigen. Der palästinensische Versuch, einen eigenen Staat mittels der Vereinten Nationen ins Leben zu rufen, wird darüber hinaus von Israel, der EU und den USA als Bruch des Oslo-Abkommens gewertet, das die Grundlage des Friedensprozesses mit Israel darstellt. Aus ihm geht klar hervor, dass eine Statusänderung der von den Palästinensern beanspruchten Gebiete nur am Ende von Verhandlungen stehen, nicht jedoch einseitig von einer der Konfliktparteien erklärt werden dürfe.
Im Sicherheitsrat gescheitert, bemühte sich die PA sodann erfolgreich um eine Aufnahme in die UNESCO, was prompt zur Einstellung der Zahlung der UNESCO-Beiträge der Vereinigten Staaten sowie zu Sanktionen durch Israel führte. Die PA entschied daraufhin vorerst, von Aufnahmeanträgen in weitere UNUnterorganisationen abzusehen. Zu groß war die Gefahr, sich nicht nur von den politisch relevanten Akteuren zu isolieren, sondern darüber hinaus auch infolge gekürzter oder gestrichener Finanzhilfen durch EU und USA den ökonomischen Kollaps zu riskieren. Der Auftritt von Präsident Abbas vor den Vereinten Nationen wurde von den Palästinensern als Erfolg gefeiert, die versuchte Internationalisierung ihrer Anliegen erwies sich aber als Sackgasse.
Versöhnung
Die Vereinten Nationen ihrerseits erachteten den palästinensischen Antrag wegen der politischen Situation in den palästinensischen Gebieten als problematisch, wo die PA zwar das Westjordanland kontrolliert, der Gazastreifen sich dagegen aber fest in Händen der islamistischen Hamas befindet. Abbas sei somit als Vertreter eines „Staates“, über den er nur zum Teil Souveränität beanspruchen konnte.
Seit den Auseinandersetzungen zwischen Fatah und Hamas im Sommer 2007, als die Islamisten gewaltsam die Macht im Gazastreifen an sich rissen, gab es immer wieder Anläufe zur „Versöhnung“ der beiden verfeindeten Palästinenserorganisationen. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten diese Bemühungen im Mai 2011, als Fatah und Hamas sich in Kairo auf ein Versöhnungsabkommen einigten. Doch kaum war das Dokument unterzeichnet, wurde seine Umsetzung bereits verzögert. Insbesondere die Hamas-Führung im Gazastreifen meint sich angesichts der Veränderungen in der Region im Aufwind und sieht daher überhaupt keine Veranlassung, Kompromisse einzugehen. Und auch wenn die PAFührung unter Abbas öffentlich die Spaltung der Palästinenser beklagt, hält sich die Begeisterung darüber in Grenzen, Islamisten entgegenzukommen, die auch auf die Macht im Westjordanland schielen. Trotz aller gegenteiligen Bekundungen ist eine tatsächliche Versöhnung der verfeindeten Gruppen nicht in Sicht. Dabei spielt auch eine Rolle, dass eine Kooperation mit der Hamas für die PA große Probleme nach ziehen würde. Denn schließlich wird der palästinensische Zweig der Muslimbrüder nicht nur von Israel, sondern auch von den USA und der EU als Terrororganisation gesehen. Sollte sich diese an einer Regierung der nationalen Einheit beteiligen, ohne zuvor von ihren extremistischen Positionen abzurücken, wäre mit dem Wegfall beträchtlicher Finanzhilfen zumindest aus den Vereinigten Staaten sowie mit politischen Sanktionen zu rechnen, ganz zu schweigen von israelischen Reaktionen. Wie schon der Versuch einer Internationalisierung des Konflikts durch die Anerkennung „Palästinas“ als Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen würde auch eine Versöhnung von Fatah und Hamas aus Sicht der Führung der PA einem Schuss ins eigene Knie gleichkommen: Die Folgen wären internationale Isolation, ökonomischer Kollaps, eine offene Konfrontation mit Israel – und nicht zuletzt die Gefahr, auch noch das Westjordanland an die Islamisten zu verlieren.
Verhandlungen mit Israel
Bleibt noch die dritte Handlungsoption für die PA: offiziell weiter so zu tun, als ob man an Verhandlungen mit Israel interessiert und von der Notwendigkeit einer Wiederbelebung des Friedensprozesses überzeugt sei.
Die öffentlichen Bekundungen der Verhandlungsbereitschaft standen schon in den letzten Jahren in bemerkenswertem Widerspruch zur Weigerung, sich tatsächlich an den Verhandlungstisch zu begeben. Der dilettantische Versuch von USPräsident Barack Obama, Israel zu einem völligen Stopp neuer Bauten im Westjordanland und in Ostjerusalem zu drängen, hat Präsident Abbas in eine aussichtslose Position getrieben, denn unmöglich kann er den Eindruck erwecken, kleinere Forderungen an Israel zu stellen als dessen wichtigster Verbündeter, die Vereinigten Staaten. Um nicht völlig das Gesicht zu verlieren, stellte Abbas nun Vorbedingungen für Verhandlungen – völliger Stopp aller israelischen Bautätigkeiten im Westjordanland und in Ostjerusalem, „Grenzen“ von 1967 als Ausgangspunkt für Endstatusverhandlungen –, wohl wissend, dass Israel diese nicht akzeptieren wird.
Dennoch will keine der beiden Seiten den Eindruck erwecken, für das Scheitern des Friedensprozesses verantwortlich zu sein, weshalb in unregelmäßigen Abständen so getan wird, als sei der nicht schon längst tot. Zuletzt war es Anfang 2012 wieder einmal so weit, als sich israelische und palästinensische Vertreter auf Druck Jordaniens hin zu einer Reihe von Gesprächen in Amman trafen, die aber erwartungsgemäß erfolglos blieb.
Dabei wissen im Grunde alle, wie illusorisch die Hoffnung ist, dass der Friedensprozess in seiner bisherigen Form (noch) zu einer Lösung führen wird. Für Israel gibt es in einer Zeit, in der in etlichen arabischen Ländern Islamisten auf dem Vormarsch sind, keinen Grund, in der vagen Hoffnung auf einen Frieden Risiken einzugehen. Ohnehin stehen für Israel im Moment andere Themen im Vordergrund, allen voran der Konflikt um das iranische Atomprogramm. Danach gefragt, welchen Stellenwert er den Palästinensern im Augenblick beimessen würde, antwortete ein Vertreter des Verteidigungsministeriums kürzlich einem Mitarbeiter der International Crisis Group sinngemäß: „Auf einer Liste der fünf größten israelischen Sorgen kommen sie an sechster Stelle.“
Dass Verhandlungen augenblicklich aussichtslos sind, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass es in der Führung von PA und Fatah im Grunde niemanden gibt, der für einen Frieden mit Israel eintreten würde. Die vorherrschende Sichtweise, die in Europa gerne ignoriert, in Israel aber sehr wohl zur Kenntnis genommen wird, lautet: Israel ist ein durch und durch illegitimer Staat; die Juden sind kein Volk, sondern eine Religion, die historisch keinerlei Verbindung zu „Palästina“ hat; jeder Kompromiss mit Israel ist Hochverrat. Und selbst wenn es auf palästinensischer Seite nennenswerte Akteure gäbe, die an einer Zwei-Staaten-Lösung interessiert wären, würden sie sich hüten, öffentlich dafür einzutreten. Denn der Siegeszug des sunnitischen Islamismus in den letzten eineinhalb Jahren bedeutet auch den Siegeszug eines Israel-feindlichen Extremismus. Auch wenn Israelis und Palästinenser sich auf ein Endstatus-Abkommen einigen könnten, würde es unter dem Druck dieser Kräfte zusammenbrechen.
Aufgrund einer Reihe interner wie externer Faktoren ist der israelischpalästinensische Friedensprozess zu einem Ende gekommen, das nur nicht offiziell verkündet wird, weil niemand genau weiß, was an dessen Stelle treten sollte. Realistischerweise muss man erkennen: Solange sich wesentliche Rahmenbedingungen nicht fundamental verändern, ist die Hoffnung auf einen israelischpalästinensischen Frieden illusorisch.