Wie sich alte und neu gegründete Parteien für die kommenden Wahlen positionieren und welchen Einfluss die Offensive gegen die Hamas auf den Wahlkampf hat. Ein Lokalaugenschein aus Israel.
Von Johannes Gerloff, Jerusalem
Die „Operation Wolkensäule“ hat den Wahlkampf, der sich ohnehin schwertat, in Gang zu kommen, völlig erstickt. „Nie zuvor gab es in Israel einen so überwältigenden Rückhalt für einen Feldzug“, klagt die chronisch- kritische, linksliberale Tageszeitung Haaretz. Alle Parteiunterschiede sind vom Tisch gewischt. Der Wahlkampf ist kein Thema.
Soweit das Raketenproblem um den Gazastreifen vor Beginn des jüngsten Kriegs im Wahlkampf thematisiert wurde, war es noch der beste Beweis dafür, wie wenig im Vorfeld der Wahlen, die für den 22. Januar 2013 angesetzt sind, ein echter Kampf stattfindet. So hatte der in Teheran geborene ehemalige Generalstabschef Schaul Mofas, Vorsitzender der Kadima-Partei, die sich gerne als Mitte-Links-Alternative zur regierenden Likud-Partei präsentieren würde, Regierungschef Benjamin Netanjahu vorgeworfen, er habe die Abschreckungskraft der israelischen Armee gegenüber der den Gazastreifen beherrschenden Hamas durch seine Nachgiebigkeit verspielt.
Eigentlich hätte Netanjahu noch bis Oktober 2013 unangefochten im Amt bleiben können. Doch aus machtpolitischen wie wahltaktischen Gründen rief er sein Volk vorzeitig an die Urnen. Wie vorauszusehen und in Israel nicht unüblich, brach damit innenpolitisches Chaos aus. Die bislang größte Partei in der Knesset, Kadima, muss laut Umfragen damit rechnen, im Januar an der Sperrklausel von zwei Prozent zu scheitern.
Im Oktober traten Netanjahu und Außenminister Avigdor Lieberman vor die Presse, um die Fusion ihrer Parteien Likud und Israel Beiteinu („Israel, unsere Heimat“) zu verkünden. Man wolle mit dieser Vereinigung die zersplitterte Parteienlandschaft durch „garantierte Stabilität“ und „Regierungsfähigkeit“ ersetzen. Lieberman, der vor allem von Einwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion, aber auch von alteingesessenen Israelis und israelischen Arabern unterstützt wird, fordert ein Ende der „Parteifragmente, die eine Lebenserwartung von nur einer Legislaturperiode und keine Ideologie“ vorzuweisen haben.
Vorstellung von neuen Parteien
In Netanjahus nächster Umgebung wurden die öffentlichen Einheitsbemühungen aber gleich wieder in Frage gestellt. Eigentlich hatte der 52-jährige, charismatische Minister Mosche Kachlon sich nur eine Auszeit gönnen wollen. Ende Oktober leitete er noch das Zentralkomitee des Likud und umarmte Netanjahu in der Öffentlichkeit. Doch dann sagten Telefonumfragen dem populären Politiker, der für soziale Gerechtigkeit, niedrige Bankgebühren und Strompreise, sowie vor allem für die Zerschlagung des Monopols der Telefongesellschaften steht, plötzlich zehn oder gar zwanzig Mandate voraus, sollte er mit einer eigenen Partei zur Wahl antreten. Am Beispiel von Kachlon, dessen familiäre Wurzeln in Libyen liegen, weshalb er vor allem arabischstämmige Juden anspricht, wird klar, wie personenbezogen der israelische Wahlkampf ist.
Auch die frühere Chefin der Kadima, Tzipi Livni, tritt nach einer Auszeit bei den Parlamentswahlen mit einer neuen politischen Partei namens Hatnua („Die Bewegung“) an.
Traditionell sprießen im Vorfeld von israelischen Wahlen Kleinstparteien wie die Blumen nach einem Regenguss aus dem Wüstenboden. So stellte sich Anfang November die Partei Tikwa LeSchinui („Hoffnung auf Veränderung“) vor, deren Vertreter Araber aus dem Negev und aus Galiläa sind. In reinstem Hebräisch erklärten sie, „im Staat Israel geboren“ und als „Bürger des Staates Israel“ stolz auf ihre arabische Identität zu sein. Atif Krinawi aus der Beduinenstadt Rahat im Negev wünscht sich echte Koexistenz, eine gemeinsame Lösung der Probleme von Gewalt, Arbeitslosigkeit, Drogen und Armut im arabischen Sektor. „Nicht die Juden sind schuld am Hass und an der Gewalt innerhalb der arabischen Gesellschaft“, erklärt er, sondern „unsere arabischen Führer haben die Jugend zur Gewalt angestiftet!“ Die atomare Aufrüstung des Iran versteht der Beduine nicht nur als Bedrohung für Israel, sondern für die gesamte arabische Welt: „Wenn Ahmadinedschad eine Bombe wirft, wird die nicht nur Juden treffen, sondern alle!“ Gerade weil Israel eine gemischte Bevölkerung aus Juden und Arabern hat, sieht Krinawi eine einzigartige Chance für das Land: „Als Israelis können wir eine Brücke zwischen dem Westen und der arabisch-islamischen Welt sein.“
Im rechten Teil des Parteienspektrums fordern die Knessetabgeordneten Michael Ben Ari und Arijeh Eldad mit dem Namen ihrer neuen Partei „Macht an Israel“, „das Land Israel für das Volk Israel“. Sie wollen das Vakuum am rechten Rand füllen und bemängeln, dass „eine Million arabische Bürger Israels alle Rechte ohne Pflichten“ bekommen. Sie kritisieren nicht nur, dass 100.000 afrikanische Immigranten der israelischen Wirtschaft zur Last fallen, sondern auch, dass „Israel trotz andauernden Raketenbeschusses aus Gaza die Bevölkerung dort füttert“.
Doch nicht nur neue Parteien sorgen für Durcheinander, auch etablierte Parteien müssen sich auf die Schnelle neu konstituieren. Um bei Sicherheits- und außenpolitischen Fragen mitreden zu können, werben einige um verdiente Generäle, andere holen sich Wirtschaftsprofessoren ins Boot. Entscheidend dafür sind aber offenbar weder ideologische noch politische Positionen und Überzeugungen, auch nicht konkrete Lösungsvorschläge für anstehende Probleme; ausschlaggebend ist einzig das Auftreten eines Kandidaten in der Öffentlichkeit.
Alte Einteilungen in „rechts“ oder „links“ sind längst hinfällig. Im Blick auf den Iran ist man sich in Israel einig. Der „Friedensprozess“, das Verhältnis zu den Palästinensern oder die Siedlungsfrage spielen in der öffentlichen Diskussion keine Rolle. Während sich die linkszionistische Meretz-Partei auf ihrer Urwahlveranstaltung schon einmal prophylaktisch selbst als einzig verbliebene Linkspartei feierte, fragte ihr ehemaliger Abgeordneter im israelischen Parlament, Amnon Rubinstein, öffentlich, warum die Linke in Israel nicht mehr populär ist? „Die Linke hat versprochen, die Abgabe von Land werde Frieden bringen“, beantwortet der Professor die selbst gestellte Frage. Gleichzeitig habe die palästinensische Führung und ein Teil der arabischen Welt alles getan, um das zu widerlegen. „Man darf die Rolle der Palästinenser beim Versagen der israelischen Linken nicht übersehen“, poltert der Alt-Politiker und meint, die israelische Linke werde erst ein Comeback erleben, „wenn es ihr gelingt, unter Beweis zu stellen, dass sie ‚patriotisch‘ und ‚pro-israelisch‘ ist.“ Seiner Ansicht nach hat die Bewegung erst wieder eine Chance, wenn sie bereit ist, „auch inhumane und antiliberale Dinge auf der arabischen Seite anzuprangern“.
Die Meretz-Vorsitzende Sahava Gal’on sieht „das Gespenst des Faschismus am Horizont aufsteigen“, weil auf der politischen Bühne des jüdischen Staates jede Alternative zu Benjamin Netanjahu fehlt. Seiner Mitte-Rechts-Koalition wird jetzt schon ein sicherer Wahlsieg mit möglicherweise mehr als 70 von 120 Sitzen in der Knesset vorausgesagt. „Alle stehen Schlange, um einen Platz in der Regierung Netanjahu zu bekommen“, meint ein Beobachter, während glaubhaft sein wollende Gerüchte die Runde machen, man habe den 87-jährigen Staatspräsidenten Schimon Peres gebeten, sich doch als Gegenkandidat zu Netanjahu zur Verfügung zu stellen.