Von Erwin Javor
Heute mache ich mir zur Abwechslung einmal Gedanken über die Juden. Vor allem über mich. Wer bin ich eigentlich?
In Wien, ein braver IKG-Wähler. Was soll ich sonst machen? Weil eigentlich ist mir vollkommen klar, dass unsere Wahlen eine Provinzposse waren. Es gibt in Wien 5.600 wahlberechtigte Juden. Davon sind etwas über 60 Prozent zur Wahl gegangen, um sich für einen der 24 Kultusräte zu entscheiden. Und jetzt raten Sie einmal, wie viele Parteien sich um diese unmöglichen und unbezahlten Jobs verbissen gerissen haben. Sie haben falsch geraten. Ganz falsch. Kalt, ganz kalt. Sie erraten es nie. Es waren 10! Es ist also bei 3.385 für 10 Parteien gültig abgegebenen Stimmen durchaus wahrscheinlich, dass manche Parteien für eine der für sie abgefallenen Stimmen mehr als 300 Euro für die peinlich- aggressive Wahlwerbung ausgegeben haben. Und wofür das Ganze? Das hätten sie billiger haben können. Wenn sich ein paar gute, kreative und intelligente Fachleute zusammengesetzt und guten Willens ein paar Ideen entwickelt hätten, wäre wesentlich mehr dabei herausgekommen.
Zu einem beeindruckenden Wahlkampf haben diese Investitionen jedenfalls nicht geführt. Wenn ich nur daran denke, dass die Atid nicht einmal die Schamgrenze eingehalten hat, einen Toten aus ihren Querelen herauszuhalten. Sie hat sich nicht entblödet, auf eine angebliche Aussage des verstorbenen Alexander Friedmann zurückzugreifen, um einen politischen Gegner herabzuwürdigen und zu diffamieren. Soweit ich Alex, der große und nachhaltige Errungenschaften für die Gemeinde geleistet hat, in Erinnerung habe, bin ich sicher, dass er eher damit beschäftigt war, die eine oder andere Pointe über den derzeitigen Präsidenten als über Martin Engelberg zu formulieren. Aber die Geschmacklosigkeit, mit Hilfe eines Toten Ossi Deutsch derart zu verhöhnen, wäre niemandem eingefallen.
Und nicht einmal jetzt, wo die Wahl entschieden ist, können die „Gewinner“ in ihrem Siegestaumel und Machtrausch – nebbich – damit aufhören, auf Engelberg herumzuhacken und nachzutreten, wie ihre Website demonstriert. Peinlich. Aber es ist, wie es ist. Und die ersten öffentlichen Stellungnahmen meines neuen Präsidenten Ossi Deutsch, unbeholfen und nur grammatikalisch kreativ, lassen nichts Gutes für die Zukunft erwarten. Aber wie heißt es so schön, wem Gott gibt ein Amt, dem gibt er auch Verstand. Das Potenzial nach oben ist unbegrenzt.
Ja, ich wollte diesmal eigentlich über mich schreiben. Wer bin ich?! Die einzige Antwort auf diese zutiefst jüdische Frage kann doch nicht gewesen sein „ein Wähler der IKG“! Ich habe heuer doch noch etwas anderes erlebt. Im Sommer war ich in der heutigen Ukraine, auf einer ganz persönlichen Reise auf den Spuren meines Vaters, und habe mit eigenen Augen gesehen, was ich vorher schon gewusst habe. Die Welt seiner Generation ist ausgelöscht und untergegangen. Aber mein Vater und seine Generation haben sich nicht unterkriegen lassen und haben ein neues Leben aufgebaut. Diese Generation hatte allen Grund, sich als Opfer zu sehen und hat sich letztlich dieser Rolle verweigert.
Umso eigenartiger, wenn manche ihrer Nachkommen, die von den wahren Opfern behütet, beschützt und verzogen wurden, sich in der Opferrolle, die sie gottlob nie auch nur annähernd erleiden mussten, gemütlich einrichten.
Genau darum geht es im jüngst erschienenen Buch von Peter Menasse. In seiner Rede an uns argumentiert er (und ich teile seine Meinung), dass wir stattdessen – ohne einen Schlussstrich des Vergessens auch nur in Betracht zu ziehen – mutig und selbstbewusst in die Zukunft schauen und unsere vorhandenen Werte pflegen müssen.
Wer bin ich … Ich bin gerade in Tel Aviv. In den letzten zwei Tagen musste ich bereits zweimal alles stehen und liegen lassen und für kurze Zeit in einem Bunker vor Hamas-Raketen Schutz suchen. Bin ich deshalb ein Opfer? Sind die Israelis Opfer? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines. Hier läuft alles mit beeindruckend großer Gelassenheit, Entschlossenheit und Ernsthaftigkeit ab. Business as usual. Seit der Staatsgründung ist Israel unter Beschuss, es wird seine bloße Existenz bekämpft. Aber Israelis verhalten sich selbstbewusst, selbstkritisch und richten den Blick in die Zukunft, was nicht der erste Gedanke sein müsste, wenn man immer wieder in den Bunker fliehen und sein bloßes Leben verteidigen muss. Israelis hätten Grund, sich als Opfer zu sehen. Sie tun es nicht. Gut so!
Und wer bin ich?