Von Erwin Javor
Gehen Sie in Wien gerne in die Oper, den Musikverein oder ins stadtTheater? Dann geht es Ihnen wie mir. Flanieren Sie in Tel Aviv gerne auf der Rothschild oder am Namal, dem alten Hafen, und diskutieren leidenschaftlich mit jemandem, den sie gerade kennengelernt haben? Dann sind Sie wie ich.
In Wien herrscht Zucht und Ordnung, und das meine ich positiv. Das bedeutet nämlich, die Müllabfuhr funktioniert, die Post transportiert Briefe dorthin, wo sie hin sollen, Handwerker haben eine Berufsschule von innen gesehen, und zu einer geschäftlichen Verabredung kommt man drei Minuten früher. Das hat etwas Beruhigendes und Verlässliches.
Trotzdem werde ich in Wien in regelmäßigen Abständen unruhig. Vielleicht, weil ich gerade die „Kronen Zeitung“ gelesen habe, vielleicht, weil mir jemand höflich etwas gesagt hat, von dem ich weiß, dass er das Gegenteil meint und nur Konflikt vermeiden will. Immer wieder fühle ich selbst den Druck, mich zurückzunehmen, Gefühle nicht zu zeigen, mich zu verstellen, um nicht als irrational oder anders zu gelten.
Dann ist es wieder Zeit für mich, und ich unterziehe mich erneut den Ärgernissen absurder Flughafenrituale, denen Flüge von und nach Israel unterliegen, und fühle mich lebendig.
In Tel Aviv gehe ich voll Freude einfach irgendwo hin und bin glücklich. Ich sehe lauter junge Leute, Unmengen an Kindern und Schwangeren. Überall schwappt einem leidenschaftliche Lebensfreude entgegen, sicherlich aus dem Wissen, dass es nicht selbstverständlich ist zu leben, oder gar „normal“ zu leben. Das zeigt sich in unzähligen Alltagsgeschichten: Eine Supermarkt-Kassiererin mit russischem Akzent machte sich Sorgen, ob ich vernünftig einkaufe und empfahl mir statt des von mir gewählten Markenartikels ein billigeres Produkt und wies mich auf die Möglichkeit hin, mit meiner Kreditkarte auch auf Raten bezahlen zu können. Oder: Im Stau auf der Namir stieg ein Fahrer aus seinem Wagen aus, ging zu einem daneben stehenden Auto und reichte, kommentarlos, dem durstig aussehenden Kleinkind darin eine Wasserflasche.
Kurz vorher hatte derselbe Mann, wie in Tel Aviv üblich, ohne jegliches Interesse am Blinken oder Blick in den Rückspiegel, eine Reihe von Straßenkameraden bedrängt, behupt und geschnitten. So selbstverständlich desorganisiert wie der Straßenverkehr sind auch alle Interaktionen mit Behörden, Banken, Geschäften und Handwerkern. Israelis können genial improvisieren, aber überhaupt nicht planen. Als Reaktion auf so ziemlich jedes Ansinnen, bevor sie sich auf so herzerwärmende Weise öffnen, sind sie einmal dagegen, in Abwehrhaltung und unfreundlich. In diesen Niemandslandmomenten zwischen Angegiftelt- und Umarmt-Werden buche ich dann wieder meinen Flug nach Wien.
Kurz nach der israelischen Staatsgründung begegnen sich zwei Passagierschiffe voller jüdischer Auswanderer im Mittelmeer. Eines kommt aus Europa und hält Kurs auf Israel. Die Route des anderen führt von Haifa nach Europa. Als sie auf gleicher Höhe sind, reagieren alle Passagiere gleich auf ihre Gegenüber am anderen Schiff. Sie schütteln fassungslos den Kopf und tippen sich in eindeutiger Geste auf die Stirn: „Die da drüben haben einen Vogel!“
Diese Geschichte fällt mir immer wieder ein, wenn ich am Flughafen von Tel Aviv am Weg nach Wien oder in Schwechat am Weg nach Tel Aviv bin. Was zieht mich ständig von einem Ort zum anderen? Warum sehne ich mich nach Tel Aviv, wenn ich in Wien bin, und nach Wien, wenn ich in Tel Aviv bin? Ich weiß es natürlich. Meine Zerrissenheit ist meine Identität. Mit meiner Geschichte, der Geschichte meiner Familie, steht es mir nicht zu, mich irgendwo zu lang zu wohl zu fühlen. Ich weiß zu viel, das ich nicht vergessen kann und will. Zwischen den Stühlen zu sitzen ist für mich kein temporärer Zustand, sondern Programm. Und das ist auch gut so.