Mit „Dossier K.“ legt der ungarische Nobelpreisträger Imre Kertész seine Autobiografie vor. Sie ist eine Selbstbefragung im Dienste der Wahrhaftigkeit. Eine Analyse und ein Gespräch mit dem Nobelpreisträger.
Von Michael Kerbler
Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde Imre Kertész, der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2002, gefragt, welche nun seine richtige Identität, seine Heimat sei: das Judentum oder Ungarn. Er sei, antwortete Kertész, sich da selbst nicht sicher. „Aber solange ich meine Identität nicht finde, bin ich authentisch.“
Imre Kertész‘ große Bedeutung liegt in seiner Deutungsmächtigkeit der Welt nach Auschwitz. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass sich der ungarische Schriftsteller erst nach seinen Erfahrungen mit dem totalitären System in Ungarn intensiv mit seinen Erlebnissen in Auschwitz auseinander gesetzt hat. „Ich glaube, ich habe zuerst überhaupt nicht verstanden, was ich in Auschwitz überlebt habe“, sagte der jüdische Schriftsteller bei einer Lesung. Seine Erfahrungen verarbeitete er unter anderem in seinem „Roman eines Schicksallosen“. Die Zeit nach einem totalitären Regime ist – so Kertész – eine Zeit der Abrechnungen und der Selbstverleugnung. Die einzige Überlebensmöglichkeit in einer totalitären Maschinerie sei es, sich zu fügen, sagte Kertész auf der Leipziger Buchmesse des Jahres 2003. „Wenn die Maschinerie zerbricht, muss man mit sich abrechnen. Dann entsteht eine Lüge: Man sieht sich selbst als Opfer und erkennt sich nicht mehr in seinen Taten“, so Kertész. So sei auch zu verstehen, dass sich alle Täter als Opfer fühlten. „Wenn man sich das eingesteht, ist eine Möglichkeit zur Freiheit da. Dann ist man nicht mehr schicksallos“, sagte der Schriftsteller damals in einer Diskussion mit dem Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Jan Philipp Reemtsma. Erst nachdem er den ungarischen Aufstand von 1956 erlebt und die Repressalien unter dem kommunistischen Regime zu spüren bekommen habe, sei ihm auch die Parallele zum Totalitarismus der Nazi-Diktatur klar geworden.
Einer Versuchung ging Imre Kertész konsequent aus dem Weg: seine Lebensgeschichte in Form von Anekdoten aneinanderzureihen. „Ich will keine banalen Veteranengeschichten des Überlebens erzählen.“ Ein wichtiger Grund, warum sich Kertész der „klassischen“ Autobiografie verweigert, liegt darin, dass in seinen Augen die Autobiografie immer suggeriert, das Leben entwickle sich zielgerichtet. Und gerade das ist für ihn – einem KZ-Überlebenden – unerträglich. Für Kertész ist klar: Wenn er die eigene Rettung als rational betrachtet, müsste er auch die Idee der Vorsehung akzeptieren. Im „Roman eines Schicksallosen“ findet sich dazu der Schlüsselsatz:“ „Wenn es ein Schicksal gibt, dann ist Freiheit nicht möglich, wenn es aber … die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal, das heißt also … wir selbst sind das Schicksal.“
Mit „Dossier K.“ legt Kertész seine Autobiografie vor – eine etwas andere Biografie. Es ist eine Selbstbefragung im Dienste ästhetischer und historischer Wahrhaftigkeit, ein platonischer Dialog, den der Autor mit sich selbst führt. Imre spricht sozusagen mit Kertész. Es ist eine Ermittlung – wie es im Untertitel heißt – die der Autor gegen sich selbst führt. Und im Zuge dieser Ermittlung, dieser Selbstannäherung, passiert der Autor noch einmal alle wesentlichen Stationen seines Lebens: Kindheit und Jugend in Budapest, die Deportation ins KZ Auschwitz, die Befreiung aus dem KZ Buchenwald, seine Rückkehr, die Niederwerfung der ungarischen Revolution durch sowjetische Truppen, den so genannten Gulaschkommunismus und die politische Wende in Osteuropa. Das „Dossier K.“ ist mehr als die Biografie eines Schriftstellers. Es ist das Dossier eines wichtigen Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts.
IM GESPRÄCH nimmt der ungarische Schriftsteller – angesprochen auf den Umstand, dass er im KZ mehrmals dem sicheren Tod entgangen ist – Bezug. Etwa auf das besondere Datum, den 18. Februar 1945.