Fett, Dampf und Humor sind essenziell für ein jüdisches Deli. Wie die neue Deli-Generation damit umgeht und was Wasabi in Mazzesknödeln zu suchen hat, weiß David Sax. Er hat die bewegte Geschichte der Jewish Delicatessen aufgezeichnet. NU hat den Autor getroffen.
VON ANNA BURGHARDT
Die Kalorien dürften in die Hunderttausende gegangen sein: Mehr als 200 Delis hat David Sax im Rahmen der Recherche für sein Buch Save the Deli besucht. Und zwar weltweit – in London, in Krakau, in Montreal, in Los Angeles, in Singapur, in São Paulo. Und Sax hat sie nicht nur besucht. „Ich habe in allen Delis so ziemlich alles gekostet.“ Seiner Figur würde man das nicht mehr ansehen: Sax ist ein schlanker Mann, wie NU beim Interview in Wien, zufällig unweit der „Mazzesinsel“, feststellen durfte.
Das Interesse für „Jewish Delicatessen“, wie David Sax sowohl zu den Lokalen selbst als auch zur Deli-Esskultur im Allgemeinen sagt, ist wohl auch familiär bedingt: Sax’ Großvater stammt aus Rumänien, dem Ursprungsland der Pastrami, die Familie ist schon lange im Deli-Business. David Sax wollte ursprünglich nur über den Niedergang der Delis schreiben, die er als „jüdische osteuropäische Küche im Format eines American Diner“ definiert. Sein Buch Save the Deli wurde aber auch zum Dokument von Hoffnung, von Aufschwung und Zukunft und ist heute, selbst wenn es schon vor einigen Jahren erschienen ist, aktueller denn je. Denn nicht nur das Wort Deli, das in den vergangenen Jahren als trendiger Name für alle möglichen Arten von Imbisslokalen verwässert wurde, boomt. Auch das jüdische Deli selbst erlebt ein unübersehbares Revival – in seiner klassischen oder in einer etwas weniger klassischen Form. Und nicht zuletzt ist Pastrami derzeit ein großes Thema für Foodies, für die essbesessene Mittelschicht mit unstillbarem Hunger nach Neuem oder lange Vergessenem. „Die neuen Deli-Unternehmer sind oft Quereinsteiger, Ende dreißig, Mitte vierzig, die ihre jüdischen Wurzeln stärker leben wollen. Also gehen sie in die Gastronomie. Und sobald ein solches neues Deli erfolgreich ist, ziehen andere nach“, sagt David Sax.
Hausgemacht und handgeschnitten
Die Neo-Gastronomen gestalten nicht nur ihre Lokale zeitgemäß, sondern sind auch, was das Küchenangebot betrifft, am Puls der Zeit: Pastrami wird hausgemacht und handgeschnitten – das hat mittlerweile Seltenheitswert –, Senf wird selbst gerührt, Gemüse selbst eingelegt, Brot selbst gebacken. Alte Rezepte, etwa für gepökelte Zunge, werden ausgegraben, man kocht mit besten, oft biologischen Zutaten, vielleicht sogar aus dem eigenen Kräuter- und Gemüsegarten, und mixt mitunter augenzwinkernd Cocktails mit Sliwowitz. Vertreter dieser neuen Deli-Spezies seien etwa das Caplensky in Toronto, das Saul’s in Berkeley, das Kenny & Zuke’s in Portland, das mit seinem deutlichen japanischen Einfluss etwas schrägere Shalom Japan in New York oder das Mogg & Melzer in Berlin-Mitte, das sich in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule in der gehypten Auguststraße angesiedelt hat. Im Mogg & Melzer bewahrheitet sich auch, was David Sax als essenzielles Merkmal eines richtigen Delis anführt: „Es dampft, es riecht. Ziehen Sie für ein Deli nie Ihre besten Sachen an.“
David Sax war überrascht, bei seinen weltweiten Recherchen auf so viel Erneuerungswillen zu stoßen. Denn was er bis dahin beobachtet hatte, war: Die Jewish Delicatessen sterben aus. Aus einer ehemals blühenden Branche, die ihre Anfänge im 19. Jahrhundert hatte, war eine geworden, die dem Niedergang geweiht war. Eine Branche, in der viel Wissen und Tradition brachlag. „Natürlich einerseits aus demografischen Gründen. Aber auch aus Gründen des gesellschaftlichen Aufstiegs. Sie kennen das bestimmt von den hiesigen Einwanderern: Die Eltern wollen immer ein besseres Leben für ihre Kinder. Statt ebenfalls ein Deli zu eröffnen oder das familieneigene fortzuführen, sollten die Kinder lieber studieren und Ärzte werden, anstatt Knishes oder Blintzes zu servieren.“ Aber auch die Low-Fat-Bewegung in den USA der 1970er und 1980er war zunächst mit schuld am Niedergang der jüdischen Delis: „Das Essen in Delis ist traditionell fett. Ohne ,Schmaltz‘, ohne Hühnerfett geht gar nichts. Und als alle in den USA mit Eiweißomelett und solchen Dingen anfingen, litten die Delis darunter natürlich einmal gewaltig.“
Quereinsteiger-Delis
Die Deli-Küche hatte sich allerdings immer schon verändert, hatte sich immer schon den Gegebenheiten angepasst. Pastrami etwa, die berühmte gepökelte, geräucherte und gedämpfte Deli-Spezialität, wurde ursprünglich in Osteuropa aus Gänse, Enten- oder Hammelfleisch gemacht. Ende des 19. Jahrhunderts stellte man allmählich auf Rind um – die riesigen Rinderherden in den Weiten der neuen Heimat legten den europäischen Einwanderern diese Version unmissverständlich nahe. Die ursprünglich große Vielfalt mit diversen eng regionalen Spezialitäten aus Polen, Rumänien oder Russland, auch mit vielen Innereien wie Hirn und Zunge, ging zurück, erzählt David Sax. „Irgendwann wurde daraus eine Art ,Best of‘, daher sind die Speisekarten in den Delis einander so ähnlich.“
Auf die Low-Fat-Bewegung reagierten nun die Delis, indem man auch Dinge wie Wraps oder mehr Salate anbot, oder indem man Sandwiches weniger fett machte. Auf diese Veränderungswelle sei eine andere gefolgt, erläutert Deli-Chronist David Sax: „Spätestens seit den 1990ern machten die Delis bis auf wenige Ausnahmen ihre Pastrami nicht mehr selbst, kauften fertiges Brot, fertige Pickles, alles mit viel Chemie. Das war billiger und einfacher. Zwei oder drei Fabriken belieferten alle Delis, überall gab es also nicht nur genau dieselben Gerichte, sondern auch aus genau denselben Produkten.“ Von diesem Einheitsbrei wiederum begannen sich allmählich einige Deli-Betreiber zu distanzieren, „es folgten Innovationen wie Mazzesknödelsuppe mit Wasabi und solche Dinge. In den 1980ern und 1990ern hatte Delis die Wahl, entweder zum Museum zu werden oder so etwas wie ein Sushi-Deli oder ein chinesisches Deli. Das war eine Zeit lang cool, aber nichts davon hielt sich besonders lange. Die eigentlich signifikante Modernisierung begann 2007 mit der Generation der Quereinsteiger-Delis.“ Also jenen, die die Traditionen wiederentdecken und nun mit dem Retro- und dem Homemade-Faktor punkten.
Was diese neuen Delis zum Teil freilich nicht haben, nicht haben können: die Seele, die einem jüdischen Deli innewohnt, das seit Generationen in Familienhand ist. Der seit Jahrzehnten alle Poren eines Lokals besiedelnde Mix aus Fett, Dampf und Humor. „Der jüdische Humor ist ein essenzieller Teil dieser Seele. Delis sind einfach keine ernsten Orte, man kann in einem Deli nicht ernst bleiben. Es sind kömodienhafte Orte, ein Deli ist wie ein Woody-Allen-Film. In einem klassischen Deli weint nie jemand“, beschreibt es David Sax. „Die Atmosphäre ist informell, kommunikativ. Sie können in Manhattan als atheistischer Bauarbeiter neben jiddisch sprechenden Chassidim in einem Deli sitzen, oder als Obdachloser neben dem Bürgermeister.“