Melissa Hacker, eine New Yorker Filmemacherin hat sich der Geschichte ihrer Familie angenommen. Im NU-Gespräch erzählt sie über ihre Mutter Ruth Morley, eine berühmte Filmdesignerin, die als Kind aus Wien flüchten konnte und über ihren Großvater Mordechai Birnholz, den Besitzer einer berühmten Exlibris-Sammlung, die von den Nazis gestohlen wurde.
Von Peter Menasse (Text) und Jacqueline Godany (Fotos)
Wenn das Leben einer 13-Jährigen von der Faust einer unbarmherzigen und mörderischen Geschichte in Scherben und Splitter zerschlagen wird, dauert es fünfzig Jahre, bis sich das Bild des Schicksals wieder zu einem erkennbaren Ganzen zusammenfügen lässt. 1939 wurde die kleine Ruth Birnholz aus Wien von ihren Eltern in einen Zug gesetzt, der sie nach England bringen sollte. Mehr als 10.000 jüdische Kinder aus Deutschland, Österreich und Tschechien wurden durch solche „Kindertransporte“ vor dem Zugriff der Nationalsozialisten gerettet. Für sie alle zerbrach im selben Moment, als der Rauch aus dem Schornstein der Lokomotive aufstieg, ihre Kindheit. Die meisten nahmen, ohne das zu ahnen, endgültigen Abschied von Mutter und Vater. Was ihnen blieb, waren die Bilder von weinenden Eltern, weißen Taschentüchern, einer vom Schmerz erfüllten Bahnhofshalle, und mit zunehmendem zeitlichen Abstand die furchtbaren Gedanken, sich nicht adäquat verabschiedet, die Tragweite der Trennung nicht begriffen zu haben. Das Schuldgefühl, falsch gehandelt, als Einzige aus derFamilie überlebt zu haben, führte zum Schweigen, das bei den meisten viele Jahrzehnte, bei manchen bis zum Tod anhielt.
Ruth Birnholz, die später von England in die USA ausreiste, hat mit ihren Töchtern in deren Kindheit nie über ihr Schicksal gesprochen. „Wir haben immer nur einzelne Stücke aus dem Leben unserer Mutter erfahren“, sagt Melissa Hacker, eine der beiden, die sich auf Spurensuche in Wien befindet. „Wir wussten nur, dass unsere Mutter irgendwie anders war. Sie drückte sich zur Seite, wenn wir in die Nähe einer Menschenmenge kamen, Polizisten oder ganz im Allgemeinen Männer in Uniform, machten sie nervös. Sie war in unseren Augen eine höchst neurotische Person, die aber in ihrem Beruf hundertprozentig professionell funktionierte.“
Ruth Birnholz hatte früh geheiratet und den Namen ihres Mannes angenommen. Als Ruth Morley wurde sie zu einer berühmten Kostümdesignerin für den Film, Theater und Fernsehen. In der Mitte der 1970er-Jahre entwarf sie die Filmkleidung für Diane Keaton im Woody-Allen-Film „Annie Hall“ und schuf damit einen eigenen Stil. Viele weitere Filme, wie Sydney Pollacks „Tootsie“, oder „The Hustler“, zu Deutsch „Haie der Großstadt“, wurden von ihr ausgestattet.
Melissa Hacker, ihre Tochter kam 1961 zur Welt und begann nach einigen Jahren des politischen Engagements in der Anti-Atom-Bewegung Ende der 1980er-Jahre ein Studium an der Abteilung für Film in der New York University. Fünfzig Jahre nach der Flucht ihrer Mutter begannen die beiden über Ruths Kindheit zu reden und Melissa beschloss, als Diplomarbeit einen Film über die Kindertransporte zu drehen. Bald darauf im Jahr1990, fand in Ellenville (New York) ein Treffen der Überlebenden statt, die seinerzeit durch diese Rettungsaktion hatten flüchten können und später in die USA gekommen waren. Ruths Mutter hielt einen Vortrag, in dem sie erzählte, wie ihre Eltern und ihre Gouvernante sie zum Bahnhof begeleitet hatten. Die Gouvernante habe einen Hang zum Mystischen gehabt, berichtete sie und habe vor der Reise die Tarot-Karten gelegt. Plötzlich habe sich furchtbares Erschrecken auf ihrem Gesicht gezeigt, ein Erschrecken, das sie, Ruth Morley ihr ganzes Leben lang begleitete. „Sie wusste aus den Karten“, sagte Ruth, „dass sie mich nie mehr im Leben sehen würde.“
Der Film „My knees were jumping – Remembering the Kindertransports“ ist Melissas Erinnerung an ihre Mutter, die bald nach dem Treffen in Ellenville verstarb. „A simple and eloquent documentary,“ wie die New York Post schrieb, eine einfache und beredete Dokumentation war entstanden, die an Hand von Fotografien und einer durch die Filmlegende Joanne Woodward erzählten Geschichte die Rettung und gleichzeitige Tragödie der Kinder zeigte. Einer der Vortragenden in Ellenville, ein Mann jenseits des 70. Lebensjahrs sagte: „Let us Kinder never forget our parents.“ Die anderen weinten. Sie hatten ihre Eltern nie vergessen. Melissa Hacker hat dieses eine Kapitel der Familiengeschichte fünfzig Jahre später zu Ende bringen können. Aber es gibt noch eine weitere Geschichte aus der Familie Birnholz zu erzählen und sie will sich auch ihr annehmen. Diesmal soll es um den Vater ihrer Mutter Ruth gehen. Mordechai, oder wie er sich lieber nannte Marco Birnholz war bis 1938 Pharmazeut in der familieneigenen Apotheke „Zum Schutzengel“ im 12. Bezirk, die heute noch an gleicher Stelle existiert.
Seine ganze Leidenschaft galt dem Sammeln von Exlibris, den kunstvollen Zetteln, die am Anfang des 20. Jahrhunderts große Mode waren und zur Kennzeichnung von Büchern dienten. „Solche Bucheignerzeichen sind Ausdruck des Besitzanspruches und des Besitzerstolzes von Bücherfreunden,“ heißt es dazu bei Wikipedia. Melissas Großvater besaß rund 30.000 Buchzeichen, die meisten zugekauft, einige von ihm selbst in Auftrag gegeben, darunter auch solche, die er für seine Tochter Ruth anfertigen ließ. Da sitzt dann das glückliche kleine Mädchen namens Birnholz auf einer Birne mit einem Holzstiel, die wie ein fliegender Teppich in eine wohlbehütete Zukunft zu gleiten scheint.
Mordechai Birnholz hat alle Stürme des 20. Jahrhunderts auf das Härteste erlebt. Er war während des Ersten Weltkriegs Gefangener in Sibirien, flüchtete, wurde wieder gefangen und wegen seiner Stellung als medizinisch Verantwortlicher verschont. Schließlich gelang ihm im zweiten Anlauf die Flucht und er schlug sich zu Fuß nach Wien durch. Hier heiratete er, begann in der Apotheke zu arbeiten, die der Familie seiner Frau gehörte und wurde zum anerkannten Mitglied der österreichischen Exlibris-Gesellschaft. 1938 kam das jähe Ende seines kurzen Glücks. Die Apotheke wurde geraubt, ebenso seine Exlibris-Sammlung, die in die Österreichische Nationalbibliothek verbracht wurde. Birnholz konnte sich in die USA retten, war jedoch ein gebrochener Mann. Er scheiterte am Erlernen der englischen Sprache und konnte daher auch nicht mehr in seinem Beruf als Apotheker arbeiten. Alle seine Bücher und Exlibris waren in Wien geblieben, für eine neue Sammlung fehlten ihm Geld und Lebensmut.
Zu Beginn der 1950er-Jahre begann er mit der Nationalbibliothek zu korrespondieren, um seine Sammlung zurückerstattet zu bekommen. Dort hatte während der Nazizeit ein engagierter Historiker, namens Ernst Trenkler die Exlibris des Marco Birnholz so schleppend archiviert, dass sie nicht in alle Winde zerstreut werden konnten. Nur ein kleiner, heute nicht mehr aufzufindender Teil wurde von der Bibliothek gegen andere Kunstwerke getauscht. Die Nationalbibliothek verhielt sich ablehnend. Birnholz möge doch nach Wien kommen, wurde ihm beschieden. Der alte Mann wollte und konnte das jedoch nicht mehr. Als er in der Folge die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, hieß es aus Wien, jetzt könne er gar nichts mehr zurückfordern, die Sammlung sei schließlich österreichisches Eigentum. Erst als sich ein US-Senator für seinen neuen Landsmann einsetzte, beugte sich die Bibliothek der Aufforderung der damaligen „Besatzungsmacht“ und übergab die fast komplett gebliebene Sammlung.
Analog zum ohnmächtigen Schweigen der Opfer waren dann auch die Exlibris in der kleinen New Yorker Wohnung der Birnholz zum Schweigen verurteilt. Sie lagerten in unscheinbaren Schachteln und wurden von der Enkelkindern, darunter Melissa Hacker erst nach dem Tod der Großeltern entdeckt. Der alte Mann hatte nicht mehr die Kraft gehabt, noch die Mittel besessen, die einmalige Kollektion systematisch zu erfassen.
Vor wenigen Jahren wurde Melissa Hacker als Erbin nach Mordechai (Marco) Birnholz von der Österreichischen Nationalbibliothek angeschrieben. Im Zuge deren vorbildlicher Restitution unter der Direktion von Johanna Rachinger war man auf Tagebücher von Birnholz gestoßen, die er ab dem Jahr 1907 mit Unterbrechungen verfasst hatte. Ein riesiger Schatz an Informationen in kleinen handgeschriebenen Heften und an wunderbaren Exlibris harrt in New York der historisch-wissenschaftlichen Bearbeitung. Derzeit bemüht sich Melissa Hacker um Geld für einen Dokumentarfilm über die „Birnholzia,“ wie die Sammlung ihres Großvaters ehrenvoll in der Nationalbibliothek genannt wurde und über das Leben eines Mannes, der in seiner Heimat ein Vorbild für die Liebe zur Kultur hätte sein können, ihr aber nichts als ein Feind und zu Vertreibender war.
Melissa Hacker ist wieder zurück in New York. Was mit vorsichtigen Fragen an ihre Mutter, fünfzig Jahre nach deren Flucht im Kindertransport begonnen hat, ist zu einer Mission geworden, für die sie mit Ausdauer kämpft. Und wer ihren Film gesehen hat, mit den kleinen Kindern, die in eine Zukunft ohne Eltern verbracht wurden, versteht, dass sie nicht mehr anders kann. Sie muss mehr als 70 Jahre später ruhige, schlichte Bilder zeigen, die das traumatische Schweigen aufbrechen.
Exlibris für Ruth (Beispiele):
http://www.exlibris-austria.com/1024/artist/klimgal.htm
http://www.onb.ac.at/ausb/pro2/pt2/kuenstler.htm
Die DVD „My knees were jumping – Remembering the Kindertransports“ ist bei Amazon erhältlich