Zeitgeschichte, zeitgemäß

Der Journalist Kurt Langbein gibt eine Zeitzeugen-DVD für den Geschichte-Unterricht heraus, damit das Projekt „Oral History“ nicht mit den Verfolgten der Nazizeit stirbt. Steven Spielberg Projekt hat Hollywood-Dimensionen: 50.000 Interviews bis dato.
Von Petra Stuiber

Frau Ostermann wohnte in einem Haus im 9. Bezirk. In einem netten Haus, mit guter Nachbarschaft. Frau Ostermann kann sich an gegenseitige Besuche erinnern, an kleine, nachbarschaftliche Gefälligkeiten, Bassena-Tratsch – nur an eines nicht: „Eigentlich wusste niemand vom anderen, wer Jude war und wer nicht.“ Das änderte sich mit einem Schlag: „Plötzlich war da dieser Obernazi, der ungeheuer unverschämt auftrat. Er ging in alle Wohnungen und bediente sich nach Lust und Laune.“ Frau Ostermann ist überzeugt: Hätte damals jemand dem Obernazi Einhalt geboten, hätten Bewohner anderer Häuser anderen Obernazis Einhalt geboten und – „es hätte nie so weit kommen können“. Frau Ostermanns Geschichten, diese und viele weitere, sind eine Nazi-Terror-Chronik in der Nussschale, sozusagen. Ihre Zuhörer sind keine geübten Interviewer, sondern Gymnasiasten vor der Matura (zumeist aus den 7. Klassen). Das lange Interview mit Frau Ostermann sowie Gespräche mit 21 anderen Zeitzeugen, haben sie auf die DVD „Zeitzeugen des NS-Regimes“ gespeichert. Ab kommendem Schuljahr soll die DVD via Schulbuchverlag für den Zeitgeschichte-Unterricht beziehbar sein.

Ziel sei es, sagt Initiator Kurt Langbein, „unter wissenschaftlichen Voraussetzungen die dauerhafte Nutzbarkeit der Aussagen von Zeitzeugen des NS-Regimes für den Schulunterricht und für privat Interessierte zu ermöglichen“.

Ursprünglich hätten die Erinnerungen von 70 noch lebenden Zeitzeugen für die Ewigkeit erhalten werden sollen. Es blieb – vorerst – bei 22. Der Grund: 200.000 Euro hätte das DVDProjekt in vollem Umfang gekostet, über drei Jahre lang verhandelte Langbein mit dem Bildungsministerium um Subvention seines Zeitzeugen-Projekts. Nach langem Hin und Her kam dann die endgültige Absage aus finanziellen Gründen. Langbein: „Das bedeutet offenbar, dass zeitgemäße Zeitzeugen-Materialien für den Unterricht an Österreichs Schulen nicht zu den Prioritäten des Bildungsministeriums zählten.“ Doch der Journalist Langbein fand Sponsoren – unter anderem den Jubiläumsfonds der Nationalbank und private Spender – und startete in reduzierter Form. 30.000 Euro fehlen noch, um die DVD zu beenden – „aber das werden wir auch noch schaffen“, sagt Langbein. Die Zähigkeit, mit der Kurt Langbein an dem Projekt arbeitet, hat wohl auch private Gründe.

Er vollendet damit das Vermächtnis seines Vaters – der hatte vor 25 Jahren das Projekt „Oral History“ gestartet. Langbein senior war Mitbegründer der „Gesellschaft für Politische Aufklärung“, diese rief die Aktion „Zeitzeugen im Schulunterricht“ ins Leben. Bei einer Podiumsdiskussion vor drei Jahren in einem Gymnasium im 19. Bezirk sei plötzlich die Frage aufgetaucht: „Was machen wir eigentlich, wenn es die Zeitzeugen nicht mehr gibt?“ Damals entstand die Idee zur DVD. Tatsächlich drängte die Zeit, sehr viele sind bereits verstorben. In akribischer Kleinarbeit wurden die letzten Zeitzeugen aufgespürt und zur Mitarbeit bewogen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen – und es unterscheidet sich, sagt Langbein nicht ohne Stolz, auch in der Qualität von Steven Spielbergs Zeitzeugen-Projekt: „Spielberg hat die Erinnerungen der Menschen bloß archiviert. Man kann sie ansehen und betroffen sein – oder auch nicht. Mit unserer DVD dagegen können die Schüler wirklich arbeiten.“

Die Interviews wurden auf Video aufgenommen und, strukturiert aufbereitet, auf DVD gespeichert. Die Vorteile der DVD-Technik liegen auf der Hand: Sehr große Datenmengen können erfasst werden, die DVD ist ohne Qualitätsverluste lange haltbar und nimmt bei der Archivierung wenig Platz ein. Der zweite große Vorteil: Die DVD kann interaktiv genutzt werden. Die Berichte der Überlebenden wurden mit Originaldokumenten, erläuternden Texten, Fotos und Filmausschnitten verknüpft, der ORF stellte historisches Filmmaterial zur Verfügung. Jede Sequenz, jedes einzelne Ereignis ist mit Stichwort-Suche auch einzeln abrufbar. So können Lehrer die DVD sowohl für Gruppenunterricht als auch für einzelne Projekte nützen. Mithilfe dieses Speichermediums können Schüler auch selbstständig arbeiten.

 

Das Spielberg-Projekt

Die von Spielberg gegründete Shoah-Foundation entschied sich für einen anderen Weg: Professionelle Mitarbeiter der Foundation suchten weltweit nach Holocaust-Überlebenden. Diese werden interviewt, das fertige Ergebnis auf CD-Rom gebannt. Schon 50.000 Interviews (115.000 Stunden Gespräche) wurden geführt, am Ende soll eine riesige Internet-Bibliothek für die ganze Welt entstehen. Spielberg bezeichnet sein Projekt „Den Opfern einen Namen geben“ und als das „wichtigste berufliche Projekt meines Lebens“. Nach dem Erfolg von „Schindler’s List“ machte sich der Star-Regisseur persönlich auf Fundraising-Tour und lukrierte bereits viele Millionen Dollar für seine Foundation.

Doch nicht alle sehen Spielbergs Bemühungen positiv, viele Opfer-Hilfsorganisationen befürchten eine „Hollywoodisierung“ des Holocaust. In Deutschland spendeten die Verlage Burda und Bertelsmann der Shoah-Foundation im Jahr 1999 2,8 Millionen D-Mark, um den Schulen die Spielberg-CD-Rom „Testimonies of the Holocaust“ zugänglich zu machen. Kritik daran: Wieder einmal setze Spielberg auf ein „überwältigungsästhetisches Konzept“, er wolle das Verbrechen des Holocaust durch Quantität begreifbar machen. Doch seien viele Interviews oberflächlich, und die Shoah-Foundation versuche, die Trauer und das Entsetzen der Zeitzeugen didaktisch verwertbar zu machen – doch lasse sich Trauer nicht didaktisch verordnen. Ob die Einwände gegen Spielbergs Projekt gerechtfertigt sind, wird wohl erst zu beurteilen sein, wenn die Gesamtausgabe der digitalen Shoah-Bibliothek vorliegt.

Das kleine österreichische Projekt Kurt Langbeins muss vor ähnlichen Bedenken keine Scheu haben. Denn auf der DVD machen die Schüler selbst Geschichte greifbar – und sie stellen dabei ganz nahe liegende, und wohl gerade deshalb unkonventionelle, Fragen: Als eine ehemalige „Politische“ im Interview erzählt, wie sie Flugblätter verteilt habe, unterbrechen sie die Interviewer: „Wie geht das? Wie verteilt man Flugblätter, wenn das gar nicht erlaubt ist und man dafür ins Gefängnis kommen kann?“ Gerade dieser Zugang, so hofft Langbein, mache Geschichte für Jugendliche nachvollziehbarer – begreifbarer.

Fast atemlos lauschten die jungen Interviewer der Geschichte des Herrn Finsches (Cineasten übrigens aus dem Film „Hundstage“ bekannt). Der alte Herr war 14 Jahre jung, als die Nazis kamen. Ihm war sofort klar, wie gefährdet er war – als österreichischer Jude. Also schwang er sich auf sein klappriges Fahrrad und flüchtete nach Sopron/ Ungarn. Dort fiel ihm zunächst einmal auf, dass er kein Ungarisch sprach – und dass er sich damit sofort als „Deutscher“ enttarnte. Also fuhr er nach Budapest weiter. „In einer Großstadt kommst du als Fremder leichter durch“, sagt er mit leisem Lächeln in die betroffenen Gesichter seiner jungen Zuhörer hinein. Den Profi-Journalisten Langbein versöhnen solche Momente wieder mit den Schwächen seines Projekts. Etwa, dass die Themen Exil, Entnazifizierung, Vergangenheitsbewältigung und Restitution nur sehr am Rande gestreift wurden. Oder die Tatsache, dass eben nicht alle der 70 noch Überlebenden interviewt werden konnten: „Es ist doch wichtig, dass das Ministerium das Projekt nicht verhindern konnte.“ Und er verspricht: „Spätestens zu den Staatsvertragsfeiern ist die DVD fertig.“

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