Die Geschichte der Schoa wird bald nur mehr über Archivmaterial erzählt werden können. Noch aber gibt es Zeugen der Zeit, denen zuzuhören ein großer Gewinn ist. Die heute relevante Erzählung handelt jedoch von Asylsuchenden, denen unsere Solidarität gehört, vor deren in ihren Ländern eingelerntem Antisemitismus wir uns jedoch fürchten müssen. Und dann ist da noch die Wien-Wahl. Es gab also schon lustigere Zeiten, aber wir lassen uns die Freude am Leben nicht nehmen.
Erika Freeman, der in dieser Ausgabe von NU die Titelgeschichte gewidmet ist, erwähnte in unserem Gespräch die US-amerikanische Journalistin Ruth Gruber. Diese eindrucksvolle Frau wird Ende September ihren 104. Geburtstag feiern – Mazel tov! Wir wissen, dass die wenigsten Menschen ein solches Alter erreichen. Daher sind auch die meisten Juden, die als bereits Erwachsene die Schoa erlebt und durchlitten haben, nicht mehr unter uns. Die letzten verbliebenen Zeitzeugen sind die heute 90-Jährigen, deren Erinnerungen aus einer weit entfernten Kindheit stammen. Ihre traumatischen Erlebnisse haben sie oft lange verdrängt. Im hohen Alter kommen jetzt die Erinnerungen an die Vertreibung, die Flucht, den Tod naher Angehöriger unter großen seelischen Schmerzen an die Oberfläche.
In den Redaktionskonferenzen diskutieren wir immer wieder darüber, ob wir der Schoa in unserem Magazin heute noch einen großen Platz einräumen sollen. Wir leben in dramatischen Zeiten, die nichts Gutes verheißen. Es gibt neue, drängende Bedrohungen. Wir hören, sehen und lesen täglich über die beschämende Unfähigkeit der österreichischen Gebietskörperschaften, sich auf eine menschenwürdige Form der Aufnahme von Asylsuchenden zu einigen. Viele Wiener Juden sind im Wissen aufgewachsen, dass ihre Großeltern und Eltern nur überleben konnten, weil sie Gastländer gefunden hatten. Unsere eigene Geschichte lässt uns – wenn auch ziemlich ohnmächtig – mit den heute Hilfesuchenden mitleiden.
Wir wissen aber auch, dass viele Menschen aus den Fluchtländern in einem Umfeld des wütenden Antisemitismus aufgewachsen sind, den sie, wie viele aus der Türkei stammende Zuwanderer schon vor ihnen, in unser Land mitnehmen. Wir werden heute weniger von den Ewiggestrigen aus den zu engen Alpentälern bedroht, als von wirren Verschwörungstheoretikern, die alles Elend ihres Lebens einer fantasierten, hypertrophen jüdischen Allmacht zuschreiben. Diese Menschen beispielsweise darüber aufzuklären, dass der wirtschaftliche Wohlstand unseres Landes und der soziale Frieden untrennbar mit den Strukturen einer entwickelten Demokratie zusammenhängen, wäre wichtiger, als die weitere Schoa- Erzählung, die für die meisten Menschen längst ein Relikt aus einer versunkenen Zeit ist.
Andererseits werden wir nicht mehr lange mit den Menschen sprechen können, die ihrer Kindheit verlustig gingen und die so oft nicht nur zurück ins Leben fanden, sondern erstaunliche Karrieren machten und tiefe Spuren der Menschlichkeit legten. In einigen Jahren wird die Geschichte der Schoa ausschließlich über Archivmaterial erzählt werden können. Bis dahin werden wir lebendige Erzählungen bringen und den Alten unseren Respekt erweisen. Wenn auch unser Anspruch weiterhin darin besteht, über heutiges jüdisches Leben zu berichten und uns der Zukunft zu stellen.
Eine andere Diskussion führen wir vor jeder relevanten Wahl, so auch diesmal vor der Landtagswahl in Wien. Sollen wir die Parteien abfragen, wie sie zur jüdischen Gemeinde stehen, was Israel für sie bedeutet oder wie sie mit Menschenrechtsfragen umgehen wollen? Immer wieder haben wir bei solchen Umfragen erlebt, dass uns nichts als die stets gleichen Stehsätze angedient wurden und das in vielfacher Ausführung. Vor Wahlen steigt die Liebe zu allen Minderheiten ins Unermessliche. Weil wir nicht beabsichtigen, unsere Leserinnen und Leser zu langweilen, haben wir uns ein anderes Format ausgedacht. Im Heft finden Sie die Niederschrift einer Gesprächsrunde zwischen Petra Stuiber (Chefin vom Dienst Der Standard), Barbara Tóth (Innenpolitik-Chefin Falter), Martin Engelberg (Herausgeber NU) und mir über die Entscheidung in Wien.
Neben den großen Stürmen des Lebens und den regionalen politischen Lüftchen gibt es glücklicherweise auch noch den lustvollen Alltag. Darüber können Sie viel in dieser Ausgabe von NU lesen. Es tut uns allen gut, wenn wir nicht immer nur an Aggressoren, Kriege, Elend und Not denken, auch wenn wir uns davon nicht abwenden wollen.
Ich wünsche Ihnen herzlich Schana Tova,
Ihr Peter Menasse
Chefredakteur