Frederic Morton wurde im Oktober 80 Jahre alt. Der in Wien geborene Schriftsteller, der heute in New York lebt, fühlt sich nur in der englischen Sprache zu Hause. Zum Judentum hat er ein ambivalentes Verhältnis. Er bezeichnet sich als religiös, aber nicht gläubig – obwohl er gerne glauben würde.
Von Barbara Tóth
Morton sitzt auf seinem Lieblingsplatz, der Jausenecke. Hier fällt am Spätnachmittag die Sonne ein, vom Fenster aus kann kam die Luxuskreuzschiffe, die den Hudson River hinaufziehen, verfolgen. „Ich sage immer, ich wohne in der Hernalser Hauptstraße, Ecke Broadway“, erläutert Morton. „Bin ich in Wien, sehne ich mich nach New York. Bin ich in New York, sehne ich mich nach Wien.“ Lyrischer kann man das Schicksal eines Emigranten wohl nicht in Worte fassen, und auf Lyrik versteht sich Morton. Der historische Roman „Die Rothschilds“ machte ihn in Amerika berühmt (und wohlhabend). In Österreich kennt man ihn, der zuerst als Bäckerlehrling arbeitete, bevor er Schriftsteller wurde, als Autor des „Spectrums“, der Wochenendbeilage der „Presse“. Vor zwei Jahren verschenkte die Stadt Wien im Rahmen ihrer Gratisbuchaktion „Eine STADT. Ein BUCH.“ hunderttausend Stück seines autobiographisch geprägten Romans „Die Ewigkeitsgasse“, der die Geschichte seines Großvaters erzählt. Im Herbst 2005 soll bei Deuticke seine Autobiographie auf Deutsch erscheinen – erzählt anhand von ausgesuchten zehn Tagen aus seinem Leben.
Frederic Mortons gediegenes Apartment in der Upper West Side liegt im 14. Stock eines klassischen Wohnhauses, das Anfang der 20er Jahre erbaut wurde. Damals, und auch in den zwei Jahrzehnten danach, war das keine besonders gute Gegend. Das Viertel weiter nördlich nannten die – hauptsächlich jüdischen – Bewohner zynischerweise ausgerechnet „Viertes Reich“ – aufgrund der vielen dort lebenden deutschsprachigen Kriegsflüchtlinge. Einer von ihnen war auch Morton, der als 15-Jähriger mit seinen Eltern nach New York kam. Damals lebte er in einer kleinen Wohnung mitsamt seiner Verwandtschaft, beengt und arm. Heute blickt er von seinem Esszimmer auf den Hudson River. Seine Wohnung ist groß, sie hat neun Zimmer und zwei Bäder. Eingerichtet wurde sie von Frederics 2003 verstorbener Frau. Die Erinnerung an sie ist allgegenwärtig.
Ein Emigrant verliert seine Heimat und gewinnt zwei Fremden, formulierte es Alfred Polgar. Geographisch will Morton seine Heimat nicht festmachen, er verlegt sie in ein träumerisches Niemandsland, an die Ecke Hernalser Hauptstraße/Broadway. Sie steht für die Geborgenheit, die ein intaktes Grätzlleben bieten kann. Morton gründete die „block associations“ mit, jene Zusammenschlüsse entlang von Wohnblocks, die noch
heute in den gutbürgerlichen Vierteln das New Yorker Stadtleben prägen. Aber wo fühlen Sie sich dann zu Hause, Herr Morton? Die Antwort kommt so schnell wie überraschend. „In der englischen Sprache.“ Morton schreibt auf Englisch, seine Sprache ist reich und wenn er spricht, klingt es angenehm alteuropäisch, ein wenig altmodisch. Er ist stolz darauf, dass er im amerikanischen Standardwörterbuch „Merriam-Webster Unabridged“ zitiert wird, weil er seltene Wörter wie „pixilated“ in hervorragender Weise in seinen Romanen verwendet hat.
Mortons Frau liebte, obwohl sie geborene New Yorker Jüdin war, Wien und Österreich. Anders als andere emigrierte Juden kehrte Fred seiner Heimat nicht den Rücken. Die Sommerurlaube verbrachten sie in Österreich, für Recherchen – Morton arbeitete dann schon als Autor – zogen sie immer wieder nach Wien. Mit viel Liebe zum Detail und einem sicheren Geschmack hat seine Frau die New Yorker Wohnung als idealisiertes Abbild jenes Wien geschaffen, das Morton als Kind verlassen musste. Die Wände des Vorzimmers und des Esssalons sind im klassischen Rot der Sacher-Bar ausgemalt. An den Wänden hängen Plakate von historischen Ausstellungen, auf der Kommode steht eine Büste von Kaiser
Franz Joseph. Es ist ein etwas verkitschtes Wien, ein bisschen amerikanisiert, das die Kulisse für Mortons amerikanisches Leben liefert. Kommt der mittlerweile 80-jährige Schriftsteller nach Wien, und das tut er zuletzt regelmäßig, lebt er im Hilton – der Urausgabe aller stilvollen, aber gesichtslosen amerikanischen Hotelketten. Er tut dies vor allem, weil er die Vorteile eines Stammgastes genießt. Die Bediensteten wissen, dass Mister Morton nie frühstückt, dafür lange schläft und es sich zur täglichen Routine gemacht hat, gegen mittags mit dem Lift ins Erdgeschoß zu fahren, um dann flott das Treppenhaus wieder emporzusteigen. Zwei Mal macht er das pro Tag in New York, danach trainiert er mit Hanteln.
Erst dann wird erstmals gegessen, eine „Brettljause“. Abends bestellt Morton ein Glas Rotwein, einen gebratenen Fisch, dazu einen gemischten Salat – und davor einen, manchmal auch zwei Teller Hühnersuppe, je nach Können der Köchin. Er liebt Germknödel und Marillenpalatschinken. Genauso gerne, wie er isst, schaut er beim Kochen zu. Seit seine Frau gestorben ist, ist die Küche in seinem
New Yorker Apartment verwaist. Den Herd benutzt er fast nur zum Wasser heiß machen. Seine Haushaltshilfe bittet er, die Wäsche in der Küche aufzuhängen, damit er ihre Feuchte spürt und das Tropfen hört. Das und beim Kochen zuzuschauen ist für ihn Heimeligkeit. Mit seiner eisernen Disziplin hält Morton seinen Körper bemerkenswert agil. Er hat einen federnden Gang, auch, weil er Turnschuhe trägt, seine Arme sind drahtig und muskulös.
Vor ein Uhr nachts wird er selten müde. Mit der gleichen Bestimmtheit trainiert Morton auch seinen Geist. Der Nachmittag ist der Arbeit gewidmet. Telefonate mit seinem Agenten, Korrekturlesen von Fahnen für sein neuestes Buch, das eingangs erwähnte biographische Projekt, Schreiben an Texten. Auch abends, wenn er in Gesellschaft ist, hat er sein Notizbuch stets dabei. Er notiert sich Ideen, manchmal schreibt er nur Schlagworte auf und setzt sie mit Linien und Kreisen zueinander in Bezug. Frederic Morton ist mindestens so viel Journalist wie Schriftsteller. Er arbeitet nach wie vor als Kolumnist, etwa für die Los Angeles Times.
Früher schrieb er Reise-Reportagen und Gourmetkritiken für das US-Hochglanzmagazin Vanity Fair. Er hat eine scharfe Beobachtungsgabe und die Fähigkeit, eine unglaubliche Fülle an Wissen elegant und witzig seinem Gesprächspartner gegenüber auszubreiten, ohne dabei je professoral oder rezitierend zu wirken. Wenn Frederic Morton aus seinem Leben erzählt, dann ist es, als würde er eine Leseprobe aus einem seiner Romane geben. Er hat lange gewartet, bis er seine Autobiographie geschrieben hat. Es ist wohl auch eine Art Schlusspunktsetzen nötig, das nicht einfache Eingeständnis, dass das eigene Leben im Großen und Ganzen gelebt wurde, bevor man sich als Schriftsteller an den Tisch setzt, die erste Seite einspannt und beginnt, nicht von fremden, sondern von eigenen Abenteuern zu erzählen. Vor gut einem Jahr starb Freds Frau, die zuvor schon lange bettlägerig war. Auch das mag mit ein Grund sein, ein Lebenskapitel zu beenden – indem man es aufschreibt. Morton wollte keine normale Biographie verfassen. Ich hätte auch eine klassische Biographie schreiben können, aber das wollte ich nicht. Es ist schon zu oft gemacht worden. Ich wollte etwas Originelles machen, ein autobiographisches Projekt. Ich beginne als Zehnjähriger in Wien und höre sechzig Jahre später als Siebzigjähriger, wieder in Wien, auf. Dazwischen gibt es Tage in New York, in Utah, einen Tag mit Thomas Mann in Norddeutschland, einen Tag in Sankt Moritz, in Miami Beach.“ Viele Geschichten zu Tagen sind in der Schublade liegen geblieben, etwa auch zu jenem, an dem Morton sich im Jahr 1939 vor dem damaligen Gestapo-Verwaltungsgebäude im Palais Rothschild in der Prinz-Eugen-Straße neun Stunden lang anstellen musste, um einen Judenpass zu bekommen. „Später, als ich für mein Buch recherchierte und Baron Guy in Paris traf, fragte er mich, ob ich schon einmal in einem Rothschild-Gebäude war. Ich sagte: „Ja, unter eben diesen berichteten Umständen. In einem aristokratischen Englisch fragte er mich: „Did you eat during these nine hours?“ und ich verneinte. „I did not feel like eating.“ „Well, in that case my family owes you a lunch.“ Morton lacht auf: „Noblesse oblige, nicht wahr?“ Die Upper West Side, Frederic Mortons New Yorker Hernals, ist jüdisch geprägt. Auch in seinem Haus, im Innenhof, wurde Anfang Oktober eine Laubhütte aufgebaut, wie überhaupt die aus unterschiedlichen Materialen zusammengebastelten Hütten völlig selbstverständlich zum Straßenbild New Yorks in dieser Zeit gehören. Morton selbst bezeichnet sich als religiös, aber nicht gläubig. „Ich beneide alle, die gläubig sind. Als Achtzigjähriger wäre es so schön, zu glauben. Der Tod wäre sinnvoll und hoffnungsvoller. Kulturell ist die Geschichte des Judentums für die ganze westliche Welt sehr interessant, ich habe mich sehr ausführlich damit befasst, den Talmud und Kommentare dazu gelesen und auch ein Buch geschrieben: ,Crosstown Sabbath‘. Aber je mehr ich las, desto weniger gläubig wurde ich – dafür aber umso faszinierter vom Judentum.“ In seiner imaginären Heimat, gelegen an der Ecke Hernalser Hauptstraße/Broadway steht mit Sicherheit auch ein Tempel – auch, wenn er ihn nicht aufsucht.
„Die Rothschilds“ sind in einer überarbeiteten Neuauflage bei Deuticke erschienen. Die Autobiographie von Frederic Morton kommt im gleichen Verlag im Herbst 2005 auf den deutschen Markt.