Wird die Erinnerung missbraucht?

In der letzten Ausgabe von NU haben wir Peter Novicks Buch zum Stellenwert des Holocaust in der amerikanischen Gesellschaft besprochen (The Holocaust in American Life. Houghton Mifflin, Boston/New York 1999, 373 Seiten). An Novicks These, dass die amerikanischen Juden den Holocaust fuer ihre Zwecke instrumentalisiert haetten, knuepft der amerikanische Politikwissenschaftler Norman G. Finkelstein an, holt aber in seinem in diesem Sommer erschienenen Essay zu einem mit persoenlichen Angriffen gespickten Rundumschlag aus.
Von Rosa Gruenwald

Finkelstein, der bereits als einer der schaerfsten juedischen Kritiker von Daniel Jonah Goldhagens Buch ueber „Hitlers willige Vollstrecker“ auf sich aufmerksam gemacht hat, unterstellt in seinem neuen Buch, dass eine international verzweigte, geradezu allm.chtige „Holocaust-Industrie“ die Shoa dazu ausnutze, sich selbst zu bereichern und die Politik Israels vor Kritik abzuschirmen. An den juedischen Organisationen in den USA laesst Finkelstein kein gutes Haar. Er nennt das American Jewish Committee, den World Jewish Congress, die Anti-Defamation League, die Jewish Claims Conference, die World Jewish Restitution Organization bis zum Simon Wiesenthal Center – fuer ihn sind sie profitgierige Geschaeftemacher, die nicht fuer die Ueberlebenden der Shoa taetig geworden waeren, sondern ausschliesslich zur Befriedigung ihres eigenen Strebens nach Macht und Geltung.

Wie Novick stellt auch Finkelstein im ersten Kapitel seines Buches die Frage, warum der Holocaust in der US-Gesellschaft so lange keine Rolle gespielt habe. In diesem Zusammenhang wirft er den juedischen Organisationen vor, zum Ziel der Assimilation und dem Drang nach Macht nach dem Zweiten Weltkrieg die offizielle US-Politik gegenueber Deutschland unterstuetzt zu haben. Weiters haette der Kalte Krieg dazu beigetragen, dass sich juedische Organisationen wie das American Jewish Committee und die Anti-Defamation League aus purem Opportunismus sehr aktiv an der Hexenjagd der McCarthy-Aera beteiligt haetten. Die Furcht der juedischen mainstream-Organisationen davor, mit der politischen Linken im In- und Ausland in Verbindung gebracht zu werden, soll soweit gefuehrt haben, dass juedische Funktionaere sogar rechtsextreme Vereine unterstuetzt haetten und die Augen zugedrueckt haetten, als ehemalige SS-Leute in den USA Unterschlupf fanden, behauptet Finkelstein.

Als Wendepunkt sieht Finkelstein wie Novick den Sechs-Tage Krieg von 1967. Er sei dazu benutzt worden, um die amerikanische Gesellschaft auf den Kurs einer unbedingten Gefolgschaft mit Israel einzuschwoeren. Als Grund fuer dieses Einstimmen auf die israelische Politik und Militaerdoktrin sieht Finkelstein die Angst juedischer Funktionaere in den USA, dass sich der Holocaust wiederholen koennte – nur dieses Mal nicht in Europa, sondern im Nahen Osten. Um das zu verhindern, haetten die Verantwortlichen beschlossen, das Thema Holocaust in der amerikanischen Erinnerungskultur zu verankern.

Im zweiten Kapitel, das er „Schwindler, dubiose Verkaeufer und die Geschichte“ nennt, uebt Finkelstein massive Kritik an den Schoepfern einer „Holocaust-Ideologie“, die den Blick auf das wahre Geschehen unkenntlich machten. Im Mittelpunkt dieser Ideologie stuenden zwei Thesen: Die Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des juedischen Leidens, die Finkelstein zurueckweist und die These, dass der Holocaust die Konsequenz eines irrationalen, ewigen Judenhasses in der Geschichte gewesen sei. Dadurch haette man behaupten koennen, dass die Juden staendig bedroht seien und deshalb besondere Rechte beanspruchen koennten. Als Drahtzieher der „Holocaust- Ideologen“ nennt Finkelstein Eli Wiesel. Wiesel, fuer den der Holocaust geradezu eine Religion sei, verlange 25.000 Dollar pro Vortrag, weiters einen Wagen mit Chauffeur, nur um dann zu erzaehlen, dass man ueber den Holocaust nicht sprechen koenne, da er unkommunizierbar sei. Finkelstein nennt Wiesel einen „Hohepriester der Gedenkkultur“ und fuellt mehrere Seiten mit persoenlichen Attacken gegen den Nobelpreistraeger.

Nachdem Jerzy Kosinskis und Benjamin Wilkomirskis Lebenserinnerungen als Faelschungen in Grund und Boden verdammt werden, konzentrieren sich Finkelsteins Angriffe einmal mehr auf Jonah Goldhagen. Er sei ein Betrueger und kein Wissenschaftler, das Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ waere ohne die Vermarktungsstrategie der „Holocaust-Ideologen“ nie entstanden, wie viele andere Produkte der „Holocaust-Industrie“, schreibt Finkelstein.

In Kapitel drei geht Finkelstein zum Generalangriff in Sachen Entschaedigungen ueber. Die juedischen Organisationen haetten die Zahl der Ueberlebenden zu hoch genannt, um mehr Geld zu bekommen und ausserdem grosse Teile der deutschen Wiedergutmachungszahlungen, die seit Beginn der fuenfziger Jahre geleistet wurden, fuer andere Zwecke des juedischen Aufbaus verwendet. Nur etwa fuenfzehn Prozent der Gesamtleistungen seien juedischen Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung zugute gekommen. Kam die Wiedergutmachung den Ueberlebenden zugute? Der Autor behauptet nein. Nur einen Bruchteil haetten die Opfer erhalten, der Rest sei an juedische Organisationen und an Israel gegangen. Hier dient ihm die Geschichte seiner Familie als Beleg. Seine Mutter, die wie sein Vater das Warschauer Ghetto und spaeter verschiedene Konzentrationslager ueberlebt hatte, bekam nur 3.500 Dollar.

 

Man fuehlt sich bei der Lektuere oft an antisemitsche Klischees von der juedischen Weltverschwoerung erinnert. Und jubelnde Zustimmung bekommt Finkelstein tatsaechlich von der rechtsextremen Szene. Die National-Zeitung feierte ihn auf zwei Seiten als juedischen Kronzeugen gegen die „Holocaust- Mafia“. Doch Beifall von der falschen Seite schreckt den an der New York University lehrenden Politikwissenschaftler nicht. Vieles von dem, was Finkelstein schreibt, wurde schon gesagt, neu ist dagegen die radikale Sprache, neu sind die gebuendelten Angriffe auf Personen oder Organisationen, deren beeindruckenden Verdienste und Leistungen er aber verschweigt.

Finkelstein will provozieren. In den USA aber auch in Deutschland hat Finkelsteins Essay eine heftige Debatte ausgeloest. In deutschen Zeitungen finden seit Wochen Diskurse ueber den Text statt. Ist Finkelstein ein irrer Provokateur? Warum veroeffentlicht er haarstraeubende Thesen? Steckt nicht tatsaechlich ein Koernchen Wahrheit in seinen Anschuldigungen?

In Oesterreich sind Diskussionen zum Thema bisher ausgeblieben. Wir wuerden gerne ihre Meinung hoeren.

 

Norman G. Finkelstein: „The Holocaust Industry. Reflections on the Exploitation of Jewish  Suffering.“

Verso Books, New York 2000. 150 Seiten, 23 Dollar

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