Von Erwin Javor
Es muss so Anfang der Fünfzigerjahre gewesen sein. Meine Eltern und ich gingen regelmäßig in ein koscheres Restaurant, das den bezeichnenden Namen „Pax“ trug. Das „Pax“ war eine Mischung aus Kaffeehaus, Restaurant, Bethaus, Schwarzmarkt und jüdisches Gemeindezentrum für „Zuagraste“, oft völlig orientierungslose Ostjuden, die in Wien gestrandet waren. Zu Hochzeiten, Bar Mizwas, für Kartenpartien oder die hohen Feiertage wurde der Speisesaal des „Pax“ ausgeräumt und zu einer Spielhölle oder einer Synagoge umfunktioniert. Ich erinnere mich an das Lebensgefühl der „Zuagrasten“, das sich in einem ganz bestimmten Gemisch von Melodien, Gesprächen in Jiddisch, Gerüchen, dem schweren ostjüdischen Essen und inbrünstigen Gebeten ausdrückte.
Irgendwann wurde das „Pax“ geschlossen und die hohen Feiertage fanden für mich im Hotel Post statt, das einen eigenen Chasan aufwies, der die charakteristischen ostjüdischen Melodien so interpretierte, dass sich Menschen wie mein Vater zu Hause fühlten. Eines Tages machte der Chasan Karriere, indem er von der Kultusgemeinde als Oberkantor in den Stadttempel engagiert wurde. Meine Eltern, wie viele andere Ostjuden, fanden dadurch auch den Weg dorthin. Einer der Vorgänger von „unserem“ Chasan, der aus einem Schtetl kam, war Salomon Sulzer, ein Freund von Franz Schubert, der eine neue klassische Form für das Gebet entwickelt hatte und ein bedeutender Komponist für kantorale Musik wurde. Die Melodien und Improvisationen, die ich im Ohr hatte, stammten aber von „Jossele“ Rosenblatt, dem galizischen „König der Chasanim“. Ich war völlig irritiert. Das war plötzlich eine ganz andere Welt. Es herrschte Zucht und Ordnung. Der Rabbiner trug eine Art Talar, wie ein Richter in einem Hollywoodfilm. Der Oberkantor und der Chor trugen Uniformen und der Tempeldiener eine richtige Livree mit einem Napoleonhut. Ich wunderte mich: War das das Bethaus einer anderen Religion? Der Chasan war zu einem Kantor geworden und sang jetzt statt zu beten, so wie die urbanen Wiener Juden sich das vorstellten. Jene, denen im Lauf der Jahrhunderte die Stadt mittlerweile näherstand als das Schtetl. Mit der Zeit fanden sich immer mehr Ostjuden im Stadttempel ein, und nach und nach begannen ihre Erinnerungen an zu Hause, ihre ganz speziellen Traditionen und Bräuche den Stadttempel zu prägen und zu verändern. Ein Großteil der Wiener Juden hatte sich in der Zeit der Monarchie und vor dem Krieg die Ordnung und den disziplinierten Ablauf der katholischen Messe ein wenig zum Vorbild genommen. Die Traditionen der Ostjuden aber waren geprägt von Lebensfreude und Individualität im Gebet. Für Nichteingeweihte aber herrschte bei diesen Gottesdiensten schlichtweg Chaos. Es wurde während des Gebets geredet, gestritten und gelacht, und nur bei gewissen wichtigen Stellen hat man sich ganz konzentriert dem Gebet hingegeben. Aber abgesehen davon, bedeutete der Einfluss der Ostjuden im Stadttempel auch, dass diese Generation, die nach der Shoah hier gestrandet war, ihr umfangreiches Wissen über Religion und Jüdischkeit mitbrachte. Mein Vater zum Beispiel war schon als Kleinkind in einem orthodoxen Cheder geschult worden und musste neben der säkularen Schule täglich viele Stunden Thora und Talmud studieren.
Meine Generation, die diesen Wissensstand nicht annähernd erreicht hat, kann da nicht mithalten. Wie auch? Meine Eltern und ihre Freunde waren vollauf mit dem Aufbau ihrer Existenz beschäftigt und ihre Prioritäten in der Kindererziehung waren auf die Zukunft und damit gegen die zu starke Betonung auf Religion gerichtet. Also ist heute im Gegensatz zu früher, wo in einem scheinbaren Durcheinander die wichtigen Gebete mit großem Ernst durchgeführt wurden, lediglich das Durcheinander geblieben. Viele meiner Freunde gehen so wie ich nur noch zu besonderen Anlässen und zu den hohen Feiertagen in den Stadttempel, um die Tradition fortzusetzen und ihre Kinder zu ihrer Identität zu führen. Eine „community of fate“ sind wir sicher immer noch, aber eine „community of faith“ nur noch in Ansätzen.
Heute, fünfzig Jahre später, kommt mir der Stadttempel vor wie ein eingeführtes, aber immer schlechter besuchtes Kaffeehaus, nur ohne Kaffee. Bald wird es – fürchte ich – zum Museum werden.