Teil zwei der Reihe „Erzählen Sie mir“: Edith Wein (86) erzählt über die Selbstverständlichkeit, mit der sie nach dem Krieg Österreich wieder aufbauen wollte. Und die harte Realität als alleinerziehende, geschiedene Mutter zweier Söhne.
Von Ruth Eisenreich (Interview) und Verena Melgarejo (Fotos)
NU: Sie sind 1938 mit 14 Jahren nach England geflohen. Wie war Ihre erste Zeit dort?
Wein: Eine Engländerin, die Kundin im Modesalon meiner Mutter war, hat mich in Darlington, im Norden Englands, in ein College für Mittelstandskinder eingeschrieben. Wir haben Wäscherei gehabt, Kochen, aber auch andere Fächer. Es war nicht einfach, sich in dem Alter in einem englischen College zurechtzufinden, aber ich habe sehr viel davon profitiert. Ich habe einige gute Freundinnen gehabt. Eine davon, die Rosemary, habe ich vor ungefähr zehn Jahren gesucht, wir haben uns dann in London getroffen und sind noch immer in Kontakt.
Konnten Sie Englisch?
Kaum. Ich habe zwar hier Englisch gelernt, aber da habe ich nichts gelernt. Ich habe die ersten drei Monate in der Schule überhaupt nichts verstanden. Dann habe ich plötzlich angefangen, zu verstehen, weil sie Stoff gelernt haben, den wir in Wien gelernt haben. Als ich nach drei Trimestern ausgetreten bin, konnte ich gut Englisch.
Wie ging es nach dem College weiter?
Ich bin nach London gekommen und dort hat mich schon das Young Austria (eine 1939 gegründete Organisation von nach England emigrierten österreichischen Jugendlichen, Anm.) aufgefangen, weil mein Bruder mit den Kommunisten Kontakt gehabt hat. Wir waren immer sehr glücklich, wenn wir nach der Arbeit dorthin gekommen sind. Unsere Heimat war das.
Wo haben Sie gearbeitet?
Fragen Sie nicht. Ich war bei Debenham and Freebody auf der Oxford Street. Da habe ich Monate lang nur Knöpfe angenäht auf Uniformen. Ich habe dann gesagt, ich kann nicht mehr, und da haben sie mich avanciert und ich konnte auf der Nähmaschine Hosentaschen nähen. Und dann hat die Gruppe in Leeds um Hilfe gebeten, und keiner wollte nach Leeds, und ich blöde Gans habe Ja gesagt und bin nach Leeds gefahren. Dort habe ich bei Halifax in einer Fabrik für Flugzeugzubehör gearbeitet, da musste man auch immer das selbe machen, nach einem Plan das Kabel da her und so. Das habe ich einmal gemacht und dann habe ich gesagt, das halte ich nicht aus. Da haben sie mich zur Lagerhaltung gegeben und das war lebendig, dort konnte ich bestehen.
Wie ist die englische Gesellschaft mit Ihnen umgegangen?
Wir sind gut aufgenommen worden. England ist ja in den Krieg eingetreten, wir sind dann vollkommen akzeptiert worden. Als Verbündete praktisch. Die Männer am Anfang leider nicht, die wurden interniert. Ich musste auch zu einer Kommission, als ich 16 Jahre alt war. Aber sie haben mich akzeptiert.
Wann sind Sie nach Österreich zurückgekehrt?
Ich habe in England meinen Mann kennengelernt. Der ist zum Militär gegangen und wurde statt nach Österreich nach Burma geschickt. Er ist dann über Italien zurück nach Österreich und war im 46er-Jahr schon da, aber in Linz oder was weiß ich wo. Und ich bin dann alleine nach Wien gekommen und habe bei seinen Eltern gewohnt,bis mein Mann nach Wien versetzt wurde.
War es eine schwere Entscheidung, zurück nach Österreich zu kommen?
Nein. Wir wollten ja Österreich retten! Das war selbstverständlich – das war unsere Pflicht als Österreicher: zurückzukommen und aufzubauen. Viele andere Emigrantenkinder sind irgendwo in der Provinz hängen geblieben und im englischen Milieu aufgegangen. Sie wollten nicht zurück, sie waren bös. Wir haben das politisch gesehen: Wir haben den Kampf gewonnen und jetzt gehen wir aufbauen. Wir sind Österreicher und haben das Recht, da zu sein.
Wie wurden Sie in Österreich auf genommen? Angeblich wurden viele Rückkehrer gefragt, warum sie nicht in der Emigration geblieben waren …
Ja, das muss man gar nicht so böse auffassen. Die konnten sich nicht vorstellen, dass jemand, der in England happy gelebt hat, ins zerstörte Österreich gekommen ist. Also nicht aus politischen Gründen – nicht, weil man einen nicht wollte.
Wie war es dann, wieder hier zu sein?
Es war schwer. Ich habe ja keinen Beruf gehabt, ich war Hilfsarbeiterin und hatte sehr große Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Ich war dann als Englischkorrespondentin bei einer amerikanischen Firma, die hier amerikanische Schreibmaschinen verkauft hat. Ab da hat das ganz gut geklappt. Meine Mutter hat mir von England aus mit Geld geholfen, mein Bruder war Chef einer polnischen Kohlefirma und hat mir im Winter immer die Kohle geschenkt. Und dann hatte ich ’67 das Glück, eine sehr interessante Arbeit zu bekommen, die mir mit meinen Fähigkeiten und Interessen vollkommen zugesagt hat. Und zwar wurde mir angetragen, dass ich ein Export-Import-Geschäft leite. Ich war eine Geschäftsfrau, das hat mir gelegen. Ich konnte mit Leuten verhandeln und kalkulieren und hatte Ideen. Da habe ich dann schöne große Abschlüsse gemacht und es ist mir finanziell besser gegangen und so konnte ich meinen Kindern auch helfen und bin gut ausgestiegen.
Wie war die Situation speziell für Sie als Frau?
Ich habe mich irrsinnig schwer durchgekämpft, sehr deprimierende Erlebnisse gehabt, weil man mir in einer Firma gesagt hat, dass ich nicht entspreche. Erst als Englischkorrespondentin habe ich eine Position gehabt, wo man mich geschätzt hat. Mein Mann hat sich geschieden, ich habe dann zehn Jahre später wieder geheiratet und meinen zweiten Sohn bekommen, den Wolfi. Aber als der Wolfi eindreiviertel Jahre alt war, hab ich den Herrn Wein „abgesetzt“, weil das nicht zu machen war. Ich habe mich zwanzig Jahre lang sehr geplagt, mit zwei Kindern, ohne Mann und ohne einen Beruf, wo man weiß Gott was verdienen kann. Der Peter war drei Jahre, als ich angefangen habe, zu arbeiten. Dann ist er in den Kindergarten gegangen. Der Wolfi musste mit 18 Monaten schon in den Kindergarten.
Scheidungen und Kindergärten waren damals doch sicher weniger üblich als heute. Welchen Einfluss hatte da die Frauenbewegung auf Sie?
Die Frauenbewegung hat auf mich keinen Einfluss gehabt. Das Scheiden-lassen – vielleicht sind wir dadurch eher bereit gewesen, das zu akzeptieren. Ich habe mich deswegen nicht geschämt oder so, aber … nein, ich glaube, das hat überhaupt keine Rolle gespielt. Wir waren schon sehr emanzipiert, selbstbewusst.
Sie waren vielleicht Ihrer Zeit voraus?
Ja, so ist es. Die Bewegung dort (Young Austria, Anm.) hat uns – mir – sehr geholfen, auch bei meinem letzten Job. Die Selbstverständlichkeit, mit Männern zu verhandeln, das ganze Auftreten, das Selbstbewusstsein.
Es gibt die Theorie, dass der heutige Antiislamismus dem Judenhass der Dreißigerjahre ähnelt. Besteht die Gefahr, dass sich die Geschichte wiederholt?
Der ehemalige Nazi-Österreicher behandelt natürlich die Muslime wie den letzten Dreck. Aber ich glaube, dass man in der heutigen Welt, mit der EU und so, solche Hassorgien nicht mehr organisieren kann. Ich war auch einer der Befürworter der EU, weil mich die Vorstellung von Europa, das fast schon vollkommen in den Händen der Nazis war, als friedliche Völkergemeinschaft angesprochen hat. Bei uns gibt es vielleicht beim gemeinen Volk so ein bisschen Türkenhatz – an und für sich ist der Österreicher sowieso misstrauisch und neidig – aber von offizieller Seite nicht.
Wie war die Einstellung der Österreicher zu Juden und zum Judentum nach 1945?
Man hat darüber nicht gesprochen. Was die Leute sich gedacht haben, haben sie nicht sagen dürfen. Ich gehe jetzt in ein Seniorenheim und die Frauen dort sind sehr nett, aber würde ich dieses Thema anschneiden, wären vermutlich viele von ihnen noch Ehemalige. So wie wir als junge Leute vereinnahmt wurden, sind sie von den Nazis vereinnahmt worden, und sie haben einige schöne Jahre gehabt, wo sie geturnt und gesungen haben und alles Mögliche. Dass die Männer in einem sinnlosen Krieg gestorben sind, wollen sie nicht wahrhaben. Die alte Generation ist immer noch stolz auf ihre Männer, die gekämpft haben. Und was soll’s? Was soll ich da diskutieren? Ich kann gut mit den Österreichern. Manche lasse ich links liegen, und mit den anderen kann ich gut. Ich finde, Österreich hat sich toll entwickelt, und ich fühle mich hier in meiner Heimat sehr wohl.
In der Serie „Erzählen Sie mir“ bitten wir betagte Jüdinnen, über ihre Erfahrungen nach 1945 zu sprechen. Die Gespräche führt unsere Praktikantin Ruth Eisenreich, die beinahe drei Generationen jünger ist. Aus dieser Konstellation ergeben sich neue Perspektiven – für beide Seiten.