Der neue israelische Botschafter in Wien, David Roet, hatte keine Zeit, sich in Österreich einzuarbeiten. Wenige Tage nach seiner Ankunft geschah das präzedenzlose Massaker der Hamas.
Von Danielle Spera
David Roets bisherige Karriere war auf die Beziehungen mit den USA und den Vereinten Nationen fokussiert. Der Diplomat, dessen Vorfahren aus den Niederlanden und Deutschland stammen, hatte Wien immer als Wunschposten auf seiner Agenda. Dass es ein derart dramatischer Anfang sein würde, konnte niemand ahnen.
NU: Herr Botschafter, mit welchen Gefühlen beginnen wir dieses Gespräch?
David Roet: Ich habe mich gestern mit meinem engsten Schulfreund getroffen, einem früheren Wissenschaftsminister Israels, der seinen Sohn verloren hat. Dieser Sohn hat mit zwei anderen Männern versucht, einen Kibbuz zu verteidigen. Er hatte die Nachricht über das Eindringen der Hamas gehört und seine Kameraden aufgeweckt. Der 7. Oktober war Schabbat und ein Feiertag. Alle haben noch geschlafen. Um 06.31 Uhr hat er seinem Vater die Nachricht geschrieben: „Bitte bleibt zu Hause, ein Krieg hat begonnen.“ Unmittelbar danach schrieb er seinem Onkel, der in dem Kibbuz lebt: „Bitte lauft sofort in den Schutzraum.“ Der letzte Anruf ging an seine Freundin: „Ich liebe dich, hier passiert etwas Furchtbares.“ Diesen Anruf nimmt sie als letztes Geschenk von ihm wahr. Er hat für uns alle gekämpft. Als ehemaliger Minister bekam mein Schulfreund viele Nachrichten von verzweifelten Menschen, bitte helft uns, schickt die Armee, wo ist die Armee?
Ja, wo war die Armee? Das ist die Frage, die jeder stellt… Sie kommen ja soeben aus Israel zurück. Bitte beschreiben sie die Stimmung.
Es ist ein anderes Land, als das, aus dem ich vor ein paar Wochen nach Österreich gekommen bin. Diese Wochen fühlen sich wie tausend Jahre an. Für Israelis ist es eine traumatische Zeit. Ich sehe jetzt keine Spaltung mehr im Land, alle stehen zusammen und kämpfen gemeinsam. Meine Tochter war das erste Mal seit dem Massaker in Tel Aviv, sie berichtet von unglaublicher Solidarität und Hilfestellung. Jedes Auto, jedes Taxi hat Fotos von entführten Menschen aufgeklebt. Man sammelt Kleidung, Lebensmittel für die Soldaten, Menschen kommen auf die Straße und musizieren vor Gruppen von Soldaten, um so ihre Unterstützung zu zeigen. Fast 200.000 Menschen sind derzeit unterzubringen, da ihre Dörfer aus Sicherheitsgründen evakuiert wurden. Sie wohnen in Hotels oder bei Familien, die sie aufgenommen haben. Mein Schwager fährt wie viele Israelis hin und her, um zu helfen. Man versucht, das Leben irgendwie wieder in Schwung zu bringen. Als ein starkes Zeichen: Wir werden überleben und wir werden gewinnen.
Sie waren zum Zeitpunkt des Massakers am 7. Oktober noch nicht einmal hier in Österreich akkreditiert. Sie hatten gar keine Zeit, sich hier einzufinden.
Richtig, aber ich bin überwältigt von der Wärme und Zuwendung, die ich durch ihre Regierung erhalte, auch durch die Politiker aus anderen Parteien. Es ist beeindruckend, vor allem auch die Unterstützung, die Israel aus Österreich erhält, in Israel wird das mit großer Freude aufgenommen. Österreich war das erste europäische Land, das nach dem Massaker die israelische Fahne gehisst hat. Auch die Tatsache, dass Österreich die Zahlungen an die Palästinenser gestoppt hat, ist ein extrem wichtiges Zeichen, denn diese Gelder kommen der Hamas zugute. Hier übernimmt Österreich eine Vorreiterrolle. Auch die Schweigeminute im Parlament war bemerkenswert.
Was waren Ihre Erwartungen, bevor sie ihren Dienst hier angetreten hatten? Die Ereignisse vom 7. Oktober waren ja nicht vorhersehbar.
Ich war mehrere Male hier, etwa beim Salzburg Seminar. Ich bin mit meiner Familie durch Österreich gereist und war von der Schönheit des Landes begeistert. Dann zu Silvester 2020 ist eigentlich die Entscheidung gefallen. Wir waren hier mit der Familie meines Schulfreunds, von dem ich eingangs erzählt habe. Um Mitternacht haben meine Frau und ich gefunden, dass Österreich ein wunderbarer Posten sei. Als dann tatsächlich meine nächste Station zum Thema wurde, hat es sich so großartig ergeben, obwohl meine früheren Arbeitsbereiche in den USA und bei den Vereinten Nationen lagen. Jetzt bin ich glücklich hier zu sein, in der Hoffnung auf bessere Tage für unser Land.
Welche Rolle kann Österreich dabei spielen?
Österreich ist wie Israel ein kleines Land, doch für Israel ist es eines der wichtigsten Länder innerhalb der EU. Es bezieht mit einigen anderen Staaten klar Stellung für die richtige Seite. Wir haben wieder festgestellt, auf welcher Seite die UNO bzw. manche EU-Staaten stehen – nicht auf der Seite der Demokratie. Bundeskanzler Karl Nehammer hat in Israel auch eine Frau getroffen, deren Töchter nach Gaza entführt wurden. Sie sagte zu ihm: „Bitte helfen Sie in der EU und in internationalen Organisationen, dass die israelischen Geiseln nicht vergessen werden. Zu wenige Menschen sprechen über die Geiseln, Österreich hat da eine starke Stimme.“ Es ist wichtig für uns, Freunde zu haben, wir wissen, dass Österreich dazu zählt.
Wir sind alle bestürzt darüber, wie die Medien bereits kurz nach dem Massaker umgeschwenkt sind und auf die Propaganda der Hamas hereinfallen. Was kann Israel hier tun, um die Perspektive geradezurücken?
Hier in Österreich ist die Berichterstattung halbwegs erträglich, es sollte aber nicht nur halbwegs sein. Es geht nicht um den Konflikt, nicht um die Siedlungen oder die israelische Innenpolitik, solche Gespräche habe ich während meiner gesamten Karriere geführt. Hier geht es um den brutalsten und grausamsten Akt von Terrorismus, kurz gesagt um das Böse. Da gibt es keine zwei Seiten. Vor kurzem war ich in einer Diskussion bei der UNO und hörte wieder einmal: Wir müssen ausgewogen sein, wir müssen beide Seiten aufrufen, sich an internationales Recht zu halten. Ich sagte: „Feuern Sie Ihre Redenschreiber. Denn die einzige Seite, die ich kenne, sind junge Menschen, die auf einem friedlichen Musikfestival tanzen und brutal ermordet werden, wie auf einer Schlachtbank.“ Oder auch die Explosion in einem Spital. Hamas behauptete sofort, dass die Israelis schuld wären und es 500 tote Palästinenser gäbe. Wie geht denn das? Zu viele Journalisten haben das unmittelbar übernommen, ohne es zu überprüfen. Das ist gefährlich. Denn wenig später gab es Angriffe auf israelische, auf jüdische oder amerikanische Einrichtungen. So eine Berichterstattung hat fürchterliche Folgen.
Wie kommt es, dass Israel immer in diese Rolle gedrängt wird, während die Palästinenser selbst nach diesem Zivilisationsbruch als Opfer dargestellt werden?
Ich habe keine Antwort darauf, als Sohn eines Holocaust-Überlebenden stelle ich ungern Parallelen her. Doch was am 7. Oktober passiert ist, erinnert an die Verbrechen der Nazis. Auch spreche ich nicht über Antisemitismus, wenn das nicht gerechtfertigt ist. Aber das Herausheben Israels, das ständige Heranziehen eines speziellen Standards, die Blindheit gegenüber anderen Staaten und nun die Unausgewogenheit nach diesem grauenvollen, nie dagewesenen Massaker ist sehr beunruhigend. Es hat auch mit Unwissenheit, vor allem der Jugend, zu tun und mit Unverständnis. Ich verlange nicht, dass man Israel automatisch unterstützt, ich verstehe Kritik an der israelischen Regierung, aber man muss differenzieren. Ich fürchte, da sind viele im Automatic-Modus starker anti-israelischer Gefühle unterwegs. Das ist keine befriedigende Antwort, ich weiß.
Es ist unvorstellbar, dass dies nach dem Massaker an völlig unschuldigen Menschen noch immer so ist. Hier wurden Menschen getötet, die in der Mehrzahl Unterstützer einer Verbesserung der Lebensbedingungen in Gaza und eines besseren Verhältnisses mit den Palästinensern waren.
Das wurde beim Besuch von Kanzler Nehammer auch deutlich. Es geht nicht um den Konflikt oder wer wo hinter der grünen Linie siedelt, es geht um einen Kampf zwischen zwei Kulturen, zwei Zivilisationen. Eine davon ist Hamas, mit ihrem barbarischen Einsatz auch von Hochtechnologie, die ihr zur Verfügung gestellt wird. Hamas kämpft nicht nur gegen Israel, das muss allen bewusst sein. Wenn sie hier siegen, dann werden sie andere Staaten übernehmen. Sie werden zu noch mehr Vermögen kommen. Wenn der Iran dann auch noch über die Atombombe verfügt, dazu die Strömungen in Europa, werden sich diese Todesschwadronen noch weiter ausdehnen. Am 7. Oktober wurden übrigens auch viele nichtjüdische Menschen getötet. Der Kampf richtet sich gegen die Ideologie von Hamas, die mit ISIS vergleichbar ist. Es gab den Terroranschlag vor drei Jahren in Wien, gerade wurden schwedische Fußballfans in Belgien ermordet. Das sind verrückte Extremisten, angetrieben von dieser Ideologie. Nach den 2.000 Hamas-Terroristen kamen hunderte Palästinenser aus Gaza, die sich den Mördern angeschlossen und sich an den Schlachtungen von unschuldigen Menschen beteiligt haben. Wie war das möglich, wer bringt ihnen so etwas bei? Darüber müssen wir uns Gedanken machen! Das bedroht uns alle. Das muss die Welt verstehen, das müssen wir alle gemeinsam angehen. Stattdessen wenden sich viele wieder den alten Mustern zu.
Man stellt sich fassungslos und verzweifelt die Frage, wie dieses massive Eindringen von Mördern geschehen konnte?
In Israel ist man schockiert, wütend, traurig. Aber wir müssen mit der Aufarbeitung warten, bis wir den Terror besiegt haben. Dann werden wir uns diesen Themen zuwenden. Israel war vielleicht – obwohl wir in dieser Region leben, wo Irrationalität vorherrscht – zu hoffnungsfroh. Wir haben daran gearbeitet, die Lebensbedingungen der Menschen in Gaza zu verbessern. Wir haben tausenden Palästinensern Arbeit geboten, damit sie sich in Gaza ein besseres Leben aufbauen. Sie haben in Israel ein Vielfaches von dem verdient, was sie in Gaza bekamen. So haben wir gehofft, dass die Hamas die Unterstützung aus den eigenen Reihen verliert. Israelische Familien – besonders in den jetzt überfallenen Kibbuzim – haben Freundschaftsgruppen gegründet, die Palästinenser aus Gaza kamen regelmäßig auf Besuch zu ihnen. Doch das war offenbar ein Fehler. Am 7. Oktober wurde auch dieses Vertrauen getötet.
Was wird der „Day after“ bringen, was wird in den nächsten Wochen passieren?
Die israelische Armee ist stark und gut vorbereitet. Wir wurden überrascht, aber wir werden uns nie wieder überraschen lassen. Sollte die Hisbollah aus dem Norden angreifen, wird sie eine entsprechende Antwort erhalten. Niemand darf erwarten, dass Israel nicht reagiert. Wir werden uns mit aller Kraft verteidigen. Die Welt sollte zu verhindern trachten, dass die Hisbollah und der Iran den Fehler der Hamas begehen. Auch auf einen bestimmten Staat, der die Hamas finanziert, muss der Druck aufgebaut werden. Wir können die Ideologie nicht auslöschen, aber wir können ihre Kampfkraft eindämmen. Das wird ein blutiger Kampf, mit vielen Opfern auf israelischer, aber auch auf palästinensischer Seite, denn Hamas benutzt Zivilisten als Schutzschilde. Wir werden es in unserem Tempo durchführen, bis jeder dieser Mörder seine gerechte Strafe bekommen hat. Es geht nicht um Rache, sondern um Gerechtigkeit und um die Möglichkeit, dass Israelis und Palästinenser in Frieden leben. Ich bin absolut für ein freies Gaza. Frei von Hamas, frei von Terrorismus, bereit für ein friedliches Miteinander.
Wenn die Hamas-Terroristen von hunderten Menschen begleitet wurden, die auch brutal gemordet haben: Bedeutet das nicht, dass, selbst wenn die Hamas besiegt ist, das Morden weitergehen wird?
Selbst wenn wir noch am 6. Oktober miteinander gesprochen hätten, hätte ich gemeint, dass ein friedliches Miteinander möglich ist. Die Palästinenser werden uns nie lieben, jetzt ist es mehr denn je evident. Daher müssen wir extrem vorsichtig sein und alles unternehmen, dass sich so etwas nie wiederholt. Wie wir das langfristig erreichen, ob wir eine große Sicherheitszone einrichten müssen oder wer Gaza kontrolliert, das ist heute schwierig vorherzusehen. Es sind so viele Menschen ermordet worden, die einen Frieden der Herzen wollten, die sich so sehr für die Palästinenser eingesetzt haben. Ich hoffe immer noch, dass Frieden mit den Palästinensern möglich ist. Ich glaube nicht, dass dort das Böse vorherrscht, aber sie haben einfach Anführer, die nur das Böseste vorhaben und ihre Mitmenschen genauso erziehen und indoktrinieren. Ich bin jetzt hier in Österreich, der Nachbarstaat ist Deutschland. Hier hat man erlebt, dass sich Menschen ändern konnten. Aber dazu braucht es die Bereitschaft. Der palästinensische Vertreter in Wien kann nicht einmal eingestehen, dass Hamas eine Terrororganisation ist. Da müssen viele Staaten aufstehen und sagen: Das geht nicht. Denn damit legitimiert man die Verbrechen der Hamas.
Die israelische Bevölkerung hält derzeit zusammen wie aneinandergeschweißt. Wird das so bleiben?
Es ist großartig, was wir jetzt erleben. Reservisten, die noch vor ein paar Wochen gemeint haben, sie würden das Land nicht mehr verteidigen, stehen jetzt an vorderster Front. Wir werden sehen, wie sich alles entwickelt, jedes Trauma löst Veränderungen aus. Wir hoffen, dass es Veränderungen zum Besten geben wird.
Vielleicht noch ein paar Worte über ihre Herkunft?
Meine Familie kommt väterlicherseits aus den Niederlanden, mütterlicherseits aus Deutschland – mit unglaublichen Überlebensgeschichten. Mein Onkel war ein Klassenkamerad von Anne Frank, er hilft jetzt bei der Versorgung von Menschen, die evakuiert worden sind. Mein Vater war ein ewiger Optimist. Es ist vielleicht gut, dass er nicht mehr miterleben musste, was jetzt passiert ist. Als Überlebender hat er sich sehr für die Holocaust Remembrance eingesetzt und war Mitgründer der Organisation „Jeder Mensch hat einen Namen“. Er glaubte an ein Zusammenleben aller Nationen und war sehr sensibel gegenüber dem Leiden anderer Lebewesen, auch der Tiere. Bei uns zu Hause gab es nur kleine Eier. Mein Vater meinte, für die großen Eier müssen die Hühner sicher leiden.