Als junge Frau floh Rita Schwarcz 1939 nach Venezuela. Nun erhielten ihre Nachkommen – Sohn, Enkel und zwei Urenkel – die österreichische Staatsbürgerschaft.
Von Gerhard Jelinek
Seit der Änderung des Staatsbürgergesetzes, die es den Nachkommen von Opfern des Nationalsozialismus ermöglicht, relativ unkompliziert die österreichische Staatsbürgerschaft wiederzuerlangen, haben rund 26.000 Personen von diesem Recht Gebrauch gemacht. Jeden Monat kommen weitere 400 neue beziehungsweise alte Staatsbürger dazu. „Es gehört zu den schönsten Aufgaben eines Außenministers“, so Alexander Schallenberg (ÖVP), „wenn ich in einer österreichischen Botschaft Nachkommen der Opfer des Nationalsozialismus die Staatsbürgerurkunden überreichen darf. Jeder Einzelne, jede Familie hat eine schmerzliche Geschichte zu erzählen.“
Michael Rottenberg kennt die österreichische Bundeshymne schon gut: „Ich bin ein großer Formel 1-Fan, und daher habe ich die österreichische Hymne schon oft gehört, heuer praktisch bei jeder Siegerehrung nach den Rennen. Heute mit den vier Violinen hat sie nur irgendwie theatralischer geklungen.“ Rottenberg, seine zwei Kinder Michael Thomas und Andrea Margarita sowie Vater Gary Rottenberg sitzen in der ersten Reihe bei der Festveranstaltung des Außenministeriums im Palais Niederösterreich und hören erstmals live „ihre“ Hymne. Sie sind vier „neue“ österreichische Staatsbürger, Nachfahren von Opfern des Nationalsozialismus, die ihre Heimat verlassen mussten und in der Fremde Schutz und Freiheit gefunden haben.
Die Rottenbergs repräsentieren drei Generationen, die entsprechend der im Oktober 2019 einstimmig im Nationalrat beschlossenen Novelle ihre „alte“ Staatsangehörigkeit restituiert bekommen. Schallenberg verwendet in seiner Ansprache den Begriff „Wiedererlangen“ und dankt den Nachkommen der Vertriebenen für den „Akt des Vertrauens“: „Eine Gesellschaft, die sich viel zu lange selbst belogen hat, eine Gesellschaft, die diese Auseinandersetzung jetzt aber nachdrücklich führt, die versucht dieses ,Nie wieder‘ auch zu leben. Sie alle schreiben diese Geschichte ein Stück mit.“
Ungewisse Zukunft
Die Familie Rottenberg ist aus Venezuela, Panama und Miami nach Wien gekommen. Großmutter Rita Schwarcz verließ Österreich am Tag nach den Novemberpogromen 1938. Sie floh zunächst nach Hamburg, wo sie als damals 17-jährige Kleidermacherin im Februar 1939 auf dem deutschen Dampfer „Caribia“ mit 86 anderen jüdischen Flüchtlingen hoffte, dem Naziterror zu entkommen. Das Schiff der Hamburger Reederei HAPAG kreuzte seit 1933 zwischen dem Deutschen Reich und Mittelamerika. Für die jüdischen Passagiere wartet auf der anderen Seite des Atlantiks eine ungewisse Zukunft. Welches Land wird sie aufnehmen?
Die jüdischen Emigranten an Bord dürfen zunächst in keinem der angelaufenen mittelamerikanischen Häfen an Land gehen, erst nach langen Verhandlungen erlauben die venezolanischen Behörden den Flüchtlingen die Einreise. Acht Monate müssen sie in Quarantäne bleiben, ehe sie tatsächlich in Freiheit gelangen.
Im damals reichen südamerikanischen Land lernt die elegante junge Wienerin, die auf den alten Fotos in die Kamera lächelt, einen deutschstämmigen Mann kennen und lieben. Wienerin ist sie immer geblieben. So sehr hat sie von ihrer alten Heimat geschwärmt, dass ihre Nachfahren für sie die Anträge auf Restitution der Staatsbürgerschaft gestellt haben – eine posthume Hommage an die Großmutter, an ihre Herkunft, an ihre alte Heimat.
Ihr Sohn Gary fühlt sich geehrt: „Wir fühlen uns als österreichische Staatsbürger, das ist ein bewegender Moment. Meine Mutter war wienerisch, obwohl sie ihre Heimatstadt schon mit 17 Jahren verlassen musste. Sie war immer sentimental, wenn sie von Wien gesprochen hat. Meine Mutter hatte hier tiefe Wurzeln. Ich bin jetzt das erste Mal in Österreich und habe das Haus besucht, wo sie gelebt hat. Es steht noch unverändert: im 9. Bezirk, in der Pramergasse 27. Ich lebe heute zwischen Miami und Venezuela. Die Lage in Venezuela ist im Augenblick nicht sehr gut. Jetzt sind wir Bürger der Welt, Bürger von Österreich.“
Aus einer anderen Vergangenheit
Michael Rottenberg hat sich langsam der Heimat seiner Großmutter angenähert: „Ich bin in Venezuela geboren und liebe das Land. Aber man weiß immer, es hat Gründe gegeben, warum ich in Venezuela geboren wurde. Wir heißen Rottenberg. Das ist in Venezuela schwierig auszusprechen. Mit unserem Familiennamen ist es unvermeidlich, an die europäischen Wurzeln erinnert zu werden. Außerdem habe ich immer eine von der Sonne getönte Gesichtsfarbe. Die Venezolaner nennen mich „Rot“ und spotten ein bisschen über meine helle Haut. Das erinnert einem immer wieder, dass wir aus einer anderen Vergangenheit kommen. Wir waren uns immer bewusst, aus Europa zu stammen, mein Vater kam aus einem polnischen Ort, Tarnow, und ich habe immer geglaubt, wir seien Polen, aber bei der Sichtung der alten Dokumente habe ich gelernt, dass das damals ein Teil der k. u. k. Monarchie war. Wir sind also Österreicher.“
Die Familie hat die Einladung zum Besuch des Stadttempels angenommen, obwohl niemand in der Familie besonders religiös geprägt ist. Gary Rottenberg: „Wir sind katholisch erzogen worden, mehr Venezuela und weniger jüdisch. Auch meine Mutter, die 2020 gestorben ist, hatte keine starke jüdische Identität, sie fühlte sich vor allem als Wienerin. Sie hatte immer diesen deutschen Akzent, egal ob sie Englisch oder Spanisch sprach. Und sie hat immer von Österreich erzählt. Sie war keine Österreicherin auf einem Stück Papier, sie war Österreicherin, weil sie sich so gefühlt hat und weil sie sich mit ihrem Heimatland auf viele Arten identifiziert hat.“ Die Bindung zur Mutter, zur Großmutter, die als „Matriarchin“ beschrieben wird, hat die Familie über Generationen und Erdteile zusammengehalten.
Michael Rottenberg hat alle Dokumente säuberlich geordnet nach Wien mitgenommen. Die Geburtsurkunde von Großmutter Rita, ihr Meldezettel und der Pass des Deutschen Reichs mit der Swastika und dem roten Aufdruck „J“ für Jude. Auch die handschriftliche Ergänzung ihres Vornamens mit dem berüchtigten „Sara“ zeigt er. Das Verfahren zur Wiedererlangung der Staatsbürgerschaft hat die Rottenbergs mit ihrer Vergangenheit und ihrer Herkunft konfrontiert. Und die nächste Generation ist tatsächlich auf den Sprung zurück. Die 16-jährige Andrea Margarita will nach dem Schulabschluss in Wien studieren. „Meine Kinder sind jetzt zwar österreichische Staatsbürger“, so der Vater, „aber sie sprechen nur spanisch. Wir haben vor zweieinhalb Jahren von der Möglichkeit erfahren, die Staatsbürgerschaft wieder zu beantragen, und nach dem Tod meiner Großmutter waren wir überrascht, dass sie alle originalen Dokumente aufgehoben und vorbereitet hatte. Das Staatsbürgerschaftsverfahren war für uns wie eine Rückkehr in die Vergangenheit, wir haben unsere Geschichte als Familie neu entdeckt.“
Gary hat die Geschichte der Vertreibung seiner Mutter, der Ankunft in Venezuela und ihr neues Leben als Graphic Novel nachzeichnen lassen. Ein Exemplar schenkt er dem Außenminister mit der Widmung: „In apprecation to our beloved Austria.“