„Wir sind Juden. Wir glauben an Wunder“

„Man braucht keine Kippa zu tragen, um ein guter Jude zu sein.“ David Stav plädiert für ein offenes Miteinander, um die Spaltung der israelischen Gesellschaft zu überwinden. ©DANIELLE SPERA

Die Organisation Tzohar möchte eine Brücke zwischen säkularen und religiösen Israelis schlagen. Auslöser für die Gründung 1995 war die Ermordung von Jitzchak Rabin. Einer der Gründerväter und der heutige Leiter ist Rabbiner David Stav (Rav Stav). Ein Gespräch über damals und heute.

Von Danielle Spera (Tel Aviv)

NU: Fast 30 Jahre nach der Ermordung von Jitzchak Rabin scheint die Kluft in Israel heute noch größer geworden zu sein. Wie schätzen Sie das ein?
Rav Stav:
Wir fühlten damals, genau wie heute, dass die Kluft groß ist und die israelische Gesellschaft in kleine Teile aufgesplittert werden könnte. Es war uns klar, dass wir handeln müssen. Und dass die Politik Handlungsbedarf hat. Aber wir sind keine Politiker, wir sind Rabbiner, manche von uns stehen links, andere rechts. Doch darum geht es derzeit nicht. Heute geht es vor allem um Identität: Sind wir Juden, sind wir Israelis, was ist unsere Verbindung zu den jüdischen Werten, zu den demokratischen Werten in unserem Land? Das steht heute im Fokus der Spannungen.

Wie widmen Sie sich diesem Problem?
Was uns am wichtigsten erscheint, wenn es etwa um die Trennung von Religion und Staat geht, ist das Thema Heirat. Anders als in Österreich gibt es in Israel keine Zivilehe. Das heißt, dass viele Israelis nicht so heiraten können, wie sie möchten. Da geht es nicht um das Ritual, sondern darum, dass sie daran gehindert werden zu heiraten, wenn sie z. B. einen nichtjüdischen Partner oder Partnerin haben. Das hat einen Bruch in der israelischen Gesellschaft ausgelöst. Daher haben wir eine Gruppe von mehreren hundert Rabbinern gegründet, die Zeremonien durchführen. Gleichzeitig helfen wir Neueinwanderern dabei, Nachweise ihrer jüdischen Herkunft zu erbringen, damit sie heiraten können. Seither sind wir die erste Adresse für viele Themen, bei denen das israelische Rabbinat nicht weiterhilft. Wir sind die Anlaufstelle für Juden, die nicht gezwungen werden wollen, religiös zu leben. Wir respektieren jeden Menschen, der in diesem Land leben will, egal ob er religiös ist oder nicht.

Heute ist die Situation aus anderen Gründen angespannt, die Spannungen in der Gesellschaft haben sich auf die aktuelle Politik verlagert. Hat sich die Lage seit der Ermordung von Rabin noch verschärft?
Ich glaube ja. Wenn sie mir diese Frage vor einem Jahr gestellt hätten, wäre meine Antwort eine andere gewesen. Israel befindet sich heute, im Sommer 2023, dort, wo es ein paar Monate nach Rabins Ermordung im Winter 1995 war. Nicht auf Grund ähnlicher Ereignisse, doch auf Grund ähnlicher Phänomene. Unter den derzeitigen Vorzeichen sind viele Israelis der Meinung, sie könnten nicht mit den anderen zusammenleben. Viele Israelis haben das Gefühl, dass dieses Land unter bestimmten Umständen nicht mehr ihre Heimat sein kann. Das bedeutet eine reale Gefahr.

Können Sie das bitte präzisieren?
Dafür gibt es viele Ursachen. Die Justizreform ist kein Grund, sondern eine Ausrede. Allerdings hat sie etwas zum Ausdruck gebracht, das schon lange in der Gesellschaft gärt. Jetzt stellen wir fest, dass die säkulare Gesellschaft nicht mehr die Mehrheit im Land hat. Nun geht es darum, dass beide Seiten akzeptieren, dass sie einen Anspruch auf ihre Werte haben. Wir sind heute an einem wichtigen Kreuzungspunkt. Es wäre an der Zeit, dass alle Repräsentanten der verschiedenen Gruppierungen sich an einen Tisch setzen und einen neuen Bund entwerfen. Was macht uns zu einer Nation? Wie können wir am besten zusammenleben, was sind die Regeln dafür und wo sind die Grenzen? Wo ist unsere Verantwortung für unsere Mitmenschen? Dazu brauchen wir zumindest eine Art von Verfassung. Auch wenn ich nicht glaube, dass so etwas niedergeschrieben werden könnte, aber wir müssen darüber offen reden. Wir werden als Gesellschaft nicht überleben können, wenn ein großer Teil der Staatsbürger keinen Militärdienst leistet oder nicht arbeitet, während alle anderen das sehr wohl tun. Israel befindet sich in einem heiklen Moment in seiner Geschichte.

Sehen Sie eine positive Entwicklung, eine Lösung?
Realistisch gesehen nein. Doch wir gehören dem jüdischen Volk an. Wir glauben an Wunder. Aber schauen wir uns die Zahlen und Fakten an, da sehe ich nicht einmal am fernen Horizont die Möglichkeit einer Lösung. Jede der Fraktionen muss einige ihrer Träume aufgeben. Aber das wird nicht so leicht geschehen.

Es gibt ja viele Ideen, etwa dass religiöse Israelis statt Militärdienst Sozialdienst leisten.
Es gebe unzählige Möglichkeiten für eine Lösung. Doch dafür braucht es die Bereitschaft. Ich glaube fest daran, dass zwei Menschen, wenn sie zu einer Einigung kommen wollen, einen Weg finden. Wenn sie nicht zu einer Einigung kommen wollen, werden sie alle Ausreden haben. Keine der beiden Seiten ist zu einem Kompromiss bereit. Auch bei der Justizreform könnte innerhalb einer halben Stunde ein Kompromiss gefunden werden. Aber auch hier braucht es die Bereitschaft zur Einigung. Bis jetzt besteht aber kein Interesse für eine solche, daher kommt es auch nicht dazu.

Könnte Tzohar als Mediator fungieren?
Wir sind Teil verschiedener Gruppen, die daran glauben, dass es zu einer einigenden Koalition kommen muss. Die meisten wollen das. Aber das ist die schweigende Mehrheit. Wir müssen unsere Stimme erheben, das tun wir bei Tzohar vom jüdischen Standpunkt aus, denn wir sehen die Gefahr, die die Spaltung im Land in sich birgt. Ich kann von einer jüdischen Katastrophe sprechen, denn ich fürchte, es werden künftig viele säkulare Israelis das Land verlassen. Die meisten haben ohnehin schon die Verbindung zum Judentum verloren. Das ist eine schreckliche Entwicklung.

Wenn wir auf die verschiedenen Gruppierungen in Israel schauen, wo steht Tzohar? Etwa 40 Prozent der Israelis sind nicht religiös, der Rest ist aufgeteilt auf traditionell Lebende, die Orthodoxie, die Ultraorthodoxie und den Chassidismus. Wenn wir jetzt über die Bedeutung des Rebben sprechen oder die traditionelle Kleidung, sind wir nicht chassidisch. Aber wenn wir über eine Bewegung sprechen, die ihre Hand nach allen ausstreckt, ohne über sie zu richten oder sie zu bewerten, dann sind wir sehr chassidisch. Das war auch der Ursprungsgedanke des Chassidismus. Man braucht kein Gelehrter sein, kein Jeschiwe Student, um eine Verbindung zu Gott herzustellen. Wir sagen, man braucht keine Kippa zu tragen, um ein guter Jude zu sein. Wir sind alle Söhne und Töchter Gottes. Wir sollen stolz darauf sein und diese Verbindung aufrechterhalten. Das sollen wir unseren Kindern weitergeben, damit sie erkennen, wie wichtig unsere Traditionen sind. Das ist die Aufgabe von Tzohar, wir wollen zeigen, wie vielfältig unsere Traditionen sind und wie reichhaltig und sinnvoll.

Warum tun sich die säkularen mit den traditionellen und religiösen Israelis so schwer?
Es wäre ein Fehler, alle Religiösen in einen Topf zu werfen, da gibt es viele Unterschiede. Allerdings gehen die meisten nicht in die Armee und vermutlich die Hälfte arbeitet auch nicht, das sind Fakten. Im Alltag ist es kompliziert. Säkulare wollen nicht in der Nähe von Religiösen leben. Es geht so weit, dass verschiedene Gemeinden keine religiösen Bezirke wollen, denn die Religiösen sind nicht tolerant. Es beginnt mit der Kleidung bis hin zum Autofahren am Schabbat, das sind dann Streitpunkte, oder auch die Gemeindeabgaben, die von den Religiösen nicht bezahlt werden, weil sie nichts verdienen. Religiöse Gemeinden verändern den Charakter von Orten und Städten, vor allem auch dadurch, dass sie stark wachsen.

Jetzt zeichnen Sie ein dunkles Bild. Wie gelingt es Ihnen, eine positive Botschaft an die Jugend und ihre Anhängerschaft zu vermitteln?
Nein, ich zeichne kein dunkles, sondern beschreibe ein realistisches Bild der israelischen Gesellschaft. Ich glaube, dass es Veränderungen geben wird. Die Säkularen werden sich verändern müssen, und die Religiösen können nicht so abgeschlossen und separiert bleiben. Es muss zumindest kleine Veränderungen geben. Wie, das weiß ich auch nicht, denn ich bin kein Prophet. Aber ich weiß, dass beide Seiten zumindest ein bisschen aufeinander zugehen müssen, wenn wir weiter miteinander leben wollen. Aber auch hier glaube ich an ein Wunder. Wir als Juden haben in unserer Geschichte schon viel größere Krisen gemeistert.

Welche Rolle spielen in dieser Hinsicht die Palästinenser?
Dass wir jetzt gar nicht über die Palästinenser gesprochen haben, ist kein Zufall. Wenn Sie heute in der israelischen Gesellschaft nachfragen, welche Priorität das Palästinenserthema hat, dann kommt es unter den ersten fünf Punkten gar nicht vor. Hier geht es um die Lebenshaltungskosten, die Justizreform oder um die Kriminalität in der arabisch-israelischen Gesellschaft. Das heißt nicht, dass das Problem nicht besteht. Müssen wir uns damit beschäftigen? Ja. Aber wir sehen, dass die Palästinenser keine Lösung wollen; und solange es keine Lösung gibt, müssen wir so leben, bis es zu einer Lösung kommt. Bin ich optimistisch? Ja. Denn wir haben damit 75 Jahre gelebt, daher werden wir weitere 75 Jahre damit leben können. Allerdings, wenn wir heute auf die israelische Gesellschaft schauen, müssen wir rasch zu einer Lösung kommen.

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