Ahmad Mansour ist israelischer Palästinenser, Muslim, Psychologe und anerkannter Islamismusexperte. Für „NU“ ist er buchstäblich unterwegs erreichbar.
Von Michael J. Reinprecht
Mit seinem Berliner Unternehmen „MIND prevention“ betreibt er Extremismus-Prävention, arbeitet mit radikalisierten Jugendlichen in Schulen, in Gefängnissen, berät bundesdeutsche Ministerien und die Polizei. Als Jugendlicher selbst für einige Jahre Islamist, ist der 47-jährige Ahmad Mansour, der aus der nahe Kfar Saba gelegenen mehrheitlich von Arabern bewohnten Kleinstadt Tira stammt, heute gesuchter Experte im Kampf gegen Antisemitismus und den radikalen politischen Islam. Im November 2023 wurde er in Wien mit dem Arik-Brauer-Publizistik-Preis ausgezeichnet und ist seit 2022 Träger des deutschen Bundesverdienstkreuzes.
Mansours Engagement für liberale Demokratie ist nicht neu: „Eine Salafismusdebatte muss eine Debatte über Werte sein, über das Vermitteln und Stärken von Demokratie“, schrieb er bereits vor elf Jahren in der Zeit. Da war von Rufen nach einem Kalifat und der Scharia in deutschen Großstädten noch keine Rede und der Kampf gegen die Hamas noch weit weg. „Gebraucht wird eine demokratiefähige Islaminterpretation mit klaren Positionen in Hinblick auf unser Grundgesetz. So und nur so finden Muslime“, schrieb Mansour im März 2013, „in der Demokratie zur nötigen Freiheit der Auslegung islamischer Glaubensinhalte“.
Und als die israelische Sängerin Eden Golan Mitte Mai ihre Performance beim Eurovision Song Contest im schwedischen Malmö nur unter massivem Polizeigeleit erreicht, twittert Mansour: „Wer heute noch nicht begreift, dass die Ereignisse des 7. Oktober die Probleme, die wir in Europa seit Jahren ignorieren, unübersehbar gemacht haben, der will die Wahrheit offensichtlich nicht hören“.
In diesen Tagen und Wochen eilt Ahmad Mansour von Termin zu Termin. Die Diskussionsformate großer Fernsehanstalten reißen sich um ihn. NU kann den deutsch-israelischen Palästinenser im Auto telefonisch erreichen. Trotz der Arbeitslast auf seinen Schultern wirkt Mansour am Telefon ruhig, strahlt ein „Lassen Sie sich Zeit“ aus. Seine Stimme klingt klar und fest, in sich ruhend und trotzdem kämpferisch und engagiert.
Schon vor der Eskalation der Proteste an den US-Eliteuniversitäten von New York und Los Angeles habe Israel den Krieg der Bilder, aber auch die mediale Schlacht um die weltöffentliche Meinung verloren, sage ich. „Warum ist das so, Herr Mansour?“
„Das hat mehrere Gründe,“ sagt Mansour: „Erstens, Israel ist zwar militärisch sehr stark, aber sie haben nicht verstanden, dass man heute den Krieg auf Tik-Tok gewinnt, und was die Bilder betrifft, da hat Israel, da haben die Juden insgesamt weltweit nicht investiert – und Sie sehen jetzt die Ergebnisse. Zweitens, Hamas hat nicht nur eine Terrorattacke am 7. Oktober und eine militärische Auseinandersetzung in Gaza geplant, sondern natürlich auch, Bilder zu produzieren, um die Leute zu mobilisieren. Das haben wir nicht verstanden. Und wir haben nicht verstanden, dass das entscheidend ist für die Stimmung in Europa. Und drittens haben die Regierungen in Europa, die konservativen wie die linken, zum großen Teil Leute hofiert, die nicht erst seit dem 7. Oktober, sondern schon viel früher eine Art Partnerschaft mit den Islamisten eingegangen sind, die Israels Existenz massiv in Frage stellen. Das große Ganze des Antirassismus, der Identitätspolitik, das Feiern von Vielfalt war nicht nur positiv zu sehen, sondern hat auch Elemente, die hoch antisemitisch sind.“
Wahres Gesicht
Ich hole etwas weiter aus und konfrontiere Ahmad Mansour mit meiner Erfahrung aus der Arbeit in den EU-Institutionen. „Schon vor zehn Jahren, als ich die Nahost-Abteilung des Europäischen Parlaments leitete, war für mich klar zu sehen, dass Israel darin versagt hatte, die öffentliche Meinung von seinem Narrativ zu überzeugen. Unter den Europaabgeordneten, aber auch unter den EU-Beamten war das deutlich zu spüren. Die waren zum Teil ziemlich antisemitisch.“ – „… was ja stimmt“, pflichtet Mansour bei.
„Hatte das palästinensische Volk damals schon die bessere Soft Power?“, möchte ich wissen. „Ja, und es dockt auch an Narrativen an, die sich an der Universität leider wie ein Krebsgeschwür verbreitet haben: der Postkolonialismus, die Critical Race Theory oder die Identity Politics – all das ist eine Arbeit von zwanzig, nicht von zehn Jahren. Dann ist natürlich klar, dass der 7. Oktober wie ein Tag X funktionierte und dies alles aktiviert wurde. Mit dem 7. Oktober hat sich das wahre Gesicht von so vielen Organisationen, von so vielen Einzelpersonen, von so vielen Feministen, von so vielen Antirassisten, von so vielen Leuten, die sogar in der Erinnerungskultur gearbeitet haben, gezeigt. Und die sind eine Partnerschaft mit den Islamisten und den Antisemiten eingegangen. Und jetzt sehen wir die Ergebnisse. Und die sind natürlich fatal.“
Ahmad Mansours Diagnose ist nicht erfreulich. Aber sie kommt von einem Palästinenser, der in Israel aufgewachsen, der als Jugendlicher vom Imam seiner Heimatgemeinde Tira langsam, aber zielsicher hin zu einem Islamisten erzogen wurde. Denn plötzlich sei es nicht mehr um poetische Suren und die Schönheit hocharabischer Grammatik gegangen, sondern um bedrohliche Szenarien: „Der Imam beschwor eine weltweit unterdrückte Umma, die für die Befreiung Palästinas kämpfen solle. Eindringlich sprach er vom Fluch, der auf den Juden laste, von der unausweichlichen Wiedereroberung Spaniens und von der geplanten Islamisierung Europas“, schrieb Mansour im Jahr 2013 in der Zeit.
Im Telefongespräch erinnere ich ihn an die ersten Jahrzehnte des jungen Staates Israels, dem die Herzen der Jugend Europas und der USA zugeflogen waren, die mit dem jüdischen Staat und seinem heroischen Kampf fühlten, als David gegen Goliath, die arabische Übermacht „Wann hat sich das geändert? Was war der Knackpunkt?“ – „Viele werden sagen 1967. Da wurden die arabischen Narrative stärker, aber ich denke, dass das etwas später gekommen ist, vor allem durch den politischen Islam. Wissen Sie, der politische Islam hat in den 1990er Jahren in Europa eine massive Investition betrieben, Katar hat Anfang der 2000er, vor allem nach dem 11. September, in den USA und in Europa massiv investiert – und das Ergebnis sehen Sie heute. Heute ist der Antisemitismus so entfesselt, so klar, so deutlich wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg.“
Keine Empathie
Ich bedaure, Ahmad Mansour nicht gegenübersitzen zu können und nur seine Stimme zu hören. Aber man hört seine Sorge vor dem Angriff des politischen Islam auf den Westen, man hört seine Sorge um Israel. „Sie haben ja Psychologie studiert“, werfe ich ein, „erst in Tel Aviv, dann an der Humboldt Universität in Berlin. Gerade in der Psychotherapie ist die Fähigkeit zur Empathie entscheidend.“ – „So ist es. Aber wissen Sie, was der Unterschied zwischen uns und den Terroristen ist? Dass wir Empathie für alle entwickeln können. Ich nehme an, auch Sie haben Empathie für palästinensische Kinder und andere Unbeteiligte, die in diesem Krieg sterben. Das kann man aber von ideologisch verblendeten Leuten gar nicht erwarten. Wenn der Gott sogar Juden hasst, wie die Muslime das verstehen, dann kann man kaum was machen.“
„Ich glaube aber“, setzt er fort, „dass hier noch eine gewisse Kränkung hinzukommt. Sie haben ja die Gründungsjahre Israels gerade ein bisschen dargestellt. Und für meinen Vater und so viele Leute aus seiner Umgebung ist die reine Existenz eines jüdischen Staates eine Kränkung. Weil sie anfangs geglaubt haben, sie werden sie besiegen. Und das ist nicht nur nicht passiert, sondern Israel hat geschafft, was alle arabischen Länder zusammen nicht geschafft haben: Wohlstand, Technik, Fortschritt. Die Araber brauchen daheim nur ihre Fenster zu öffnen und sehen diesen erfolgreichen Staat, sie sehen die Demokratie, sie sehen den Fortschritt – und das alles haben sie nicht. Und genau diese Kränkung ist der Grund für diesen Hass.“
Ahmad Mansour redet schnell. Gewissermaßen in einem Atemzug. Man merkt, der Kampf gegen den politischen Islam und Antisemitismus ist ihm ein echtes Anliegen. In der Jugendarbeit, in Schulen und Gefängnissen liegen seine Schwerpunkte. „Wie kann der islamistische Vormarsch gestoppt werden?“, möchte ich wissen. „Ich versuche, Präventionsarbeit zu betreiben, damit sich die Leute gar nicht erst dahin bewegen, dass sie Islamisten gut finden. Und wir dürfen nicht vergessen, dass die politische Bildung in den sozialen Medien stattfindet. Ich möchte Gegennarrative in den sozialen Medien, auf Tik-Tok, auf Instagram schaffen. Wir müssen sichtbarer werden. Indem man Verunsicherung betreibt, indem man Reibung betreibt. Ich mache das mit meinen Accounts. Und ich weiß, dass ich viele Jugendliche erreiche. Stellen Sie sich vor, wenn das nicht nur eine Person, sondern Tausende machen. Und das müssen wir professionell tun, indem wir Videos produzieren, indem wir die Vielfalt in Israel darstellen, indem wir Debatten führen und darstellen, was Antisemitismus ist. Aber wir überlassen diesen Ort komplett den Radikalen. Und dann auch, wie gesagt, dass wir in den Schulen darüber sprechen und Projekttage betreiben, indem wir überall hingehen und um jede Seele kämpfen. Und das tun wir viel zu wenig. Viel zu wenig.“
Spätes Erwachen
Wir telefonieren schon bald eine halbe Stunde. Es wirkt alles ein wenig düster. Und wenn der Gazakrieg morgen zu Ende ginge, frage ich ihn, würde das die mittlerweile antisemitisch vergiftete Stimmung in Europa ändern? „Nein. Das war auch vor dem 7. Oktober nicht der Fall. Wir wollten es nur nicht sehen. Wir wollten uns damit nicht auseinandersetzen. Wir wollten die Dimensionen, die Europa erreicht haben, gar nicht ansprechen. Aber nach dem 7. Oktober ist alles sichtbar geworden, was vorher bereits da war. Wir müssen mehr investieren. Jede Initiative ist eine Chance.“
„Auch kleine Initiativen wie „Standing Together?“Ahmad Mansour bejaht. „Jede Initiative erreicht Menschen. Aber wir sollen das nicht punktuell betreiben. Wir müssen viel mehr tun. Aber ich habe das Gefühl, das wir viel zu spät aufgewacht sind.“
„Wenn überhaupt.“ – „Ja, wenn überhaupt. Und selbst wenn, muss man sich die Frage stellen, ob dieses Aufwachen in der Politik nachhaltig ist. Ich sehe auch, dass die gleichen Fehler immer wieder gemacht werden. Man spricht von ,Nie wieder‘ – und dann sehe ich Politiker, die stehen neben Postkolonialen. Und es ist immer noch in den Medien: die Lieblingsjuden sind diejenigen, die Israel kritisieren, die nicht auf der Seite Israels stehen. Also, wir müssen alles tun, wir müssen einfach sichtbarer werden, denke ich.“
Und Mansour legt noch eins drauf: „Auch wenn der Krieg morgen in Gaza zu Ende ist. Unser Krieg hier in Europa gegen Antisemitismus hat gerade angefangen und wird uns noch Jahre beschäftigen. Wir haben noch nicht über die Radikalisierungstendenzen aufgrund dieses Krieges unter jugendlichen Muslimen gesprochen, wir haben nicht über die Eliteuniversitäten gesprochen. Die Leute werden nicht übermorgen anders denken, weil der Krieg morgen zu Ende geht. Sie werden weiterhin versuchen, antisemitische Narrative zu verbreiten, werden weiterhin versuchen, Israels Existenz zu hinterfragen, sie werden weiterhin versuchen, das jüdische Leben in Europa unsicherer zu machen.“
Es tue ihm leid, keine besseren Aussichten zu haben, sagt er. Aber bei mir kommt der Diplomat durch, und ich frage Ahmad Mansour, ob nicht doch irgendeine politische Lösung des Palästina/Israel-Konflikts die turbulente Lage beruhigen könne: „Wenn Sie heute einen Zauberstab hätten, was würden Sie gerne herbeizaubern: eine Zweistaaten- oder eine Einstaatenlösung, etwa das föderale Konzept, wie es Omri Böhm vorschlägt?“
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: „Ich bin ein großer Verfechter der Zweistaatenlösung. Ich glaube, das ist die einzige Lösung. Die Fantasie über eine Einstaatenlösung bedeutet über kurz oder lang die Vernichtung des jüdischen Staates. Es würde dann einen Staat geben, aber er würde nicht mehr jüdisch sein. Es bleibt nur die Zweistaatenlösung als Ziel. Aber wer glaubt, dass mit der Gründung eines palästinensischen Staats der Antisemitismus verschwindet und der Nahe Osten stabiler wird, irrt. Denn wenn wir mit den Zuständen, die wir heute haben, eine Zweistaatenlösung installieren, dann wird es einen Bürgerkrieg geben. Es werden viele Palästinenser sterben müssen, das werden Sie sehen, es wir nicht einmal ein Jahr dauern, bis es zu einer massiven Auseinandersetzung innerhalb der palästinensischen Gebiete kommt. Und dann kann ein Terrorstaat entstehen, der Israel nochmals massiver bedroht als es heute möglich ist. Eine Zweistaatenlösung kann nur möglich sein, wenn ein Versöhnungsprojekt vorher startet. Und damit dieses Versöhnungsprojekt überhaupt eine Chance hat, muss Hamas diesen Krieg verlieren. Wenn sie gewinnen, dann wird nicht nur Israel destabilisiert, sondern der gesamte Nahe Osten. Und vielleicht dann auch Europa. Denn der politische Islam wird nicht nur über Gaza herrschen, Gaza ist nur die erste Station. Sie wollen ja über die Welt herrschen. Und deshalb ist es enorm wichtig, dass Israel diesen Krieg gewinnt. Aber ich sehe nicht, wie Israel diesen Krieg gewinnt.“
Weg der Hoffnung
Das klingt alles irgendwie aussichtlos, denke ich. Sage ich. „Und doch, Herr Mansour, es ist doch so: Hinter allem, was politisch passiert, gibt es Interessen. Und irgendeine Macht, irgendeine reale Machtstruktur muss Interessen haben, dass das heute so stattfindet, wie es stattfindet. Wer ist diese reale Macht?“ – „Es sind drei Gruppen. Erstmal der Iran, der Israel zu destabilisieren versucht und eigentlich seit vielen, vielen Jahren einen offenen Krieg gegen Israel führt, über die Hisbollah, die Huthis etc. Zweitens, der politische Islam geführt von Katar und Erdogan. Es ist kein Wunder, dass die Hamas-Führung eigentlich in beiden Ländern unterwegs ist; sie wollen die Welt beherrschen, sie wollen Gesellschaften unterwandern, sie wollen Israel destabilisieren, sie wollen eigentlich in Europa, im Westen mehr Macht bekommen. Und das betreiben sie. Die großen Geldgeber für die Eliteuniversitäten sind ja die Kataris, und die tun das nicht aus Interesse an der Wissenschaft, sie haben Interesse an der Verbreitung ihrer Ideologie. Und die dritte Gruppe sind die Linksextremen im Verbund mit den Postkolonialisten, die einen Angriff auf unsere Erinnerungskultur betreiben, einen Angriff auf unsere Art und Weise zu leben, die in Israel eigentlich die Ursünde des Westens sehen, es als ein Kolonialprojekt sehen, das es zu vernichten gilt. Und all diese drei Gruppen eint ein gemeinsames Interesse, finanziert vom Emirat Katar.“
„Und Saudi-Arabien? Was spielt Mohammed-bin-Salman für ein Spiel“, frage ich. „Nein, Saudi-Arabien spielt ein ganz anderes Spiel. Mohammed-bin-Salman will etwas ganz anderes; der will sein Land reformieren. Er hat Angst vor dem Iran und braucht die Unterstützung von Israel und den USA. Und er meint es ernst, meiner Meinung nach, mit diesen Reformen und ist meiner Meinung nach ein Partner im Kampf gegen solche Strukturen. Genauso wie die Emirate und Bahrain Partner für uns sein können – und es auch schon teilweise sind,“
„Das wäre ja dann gewissermaßen ein Weg der Hoffnung.“ – „Sie wollten Hoffnung“, schließt Ahmad Mansour. „Die Hoffnung liegt in den Golfstaaten. Und ich glaube, so schrecklich die Zeiten derzeit sind, die einzige Hoffnung, die ich sehe, ist, dass wir in Israel vielleicht bald eine andere Regierung haben werden und diese eine Normalisierung der Beziehungen mit Saudi-Arabien eingeht.“