„Betreten des Friedhofes aus sicherheitstechnischen Gründen verboten!“ ist auf einem Schild zu lesen. Hinter einer zerbröckelnden Ziegelmauer im Wiener Stadtviertel Währing verbirgt sich ein historisches Juwel. Im Mozartjahr pilgern noch mehr Touristen als sonst zum Mozartgrab im berühmten St. Marxer Friedhof; dieser gilt als Wiens einziger noch erhaltener Friedhof des Biedermeier.
Von Charles E. Ritterband
Der jüdische Friedhof in Wien-Währing dokumentiert die Blüte des jüdischen Bürgertums in der Hauptstadt der Doppelmonarchie im 19. Jahrhundert. Das historische Monument ist kaum bekannt und dem Verfall preisgegeben, sein künftiges Schicksal ist ungewiss.
Doch das trifft nicht zu. Der jüdische Friedhof Währing ist der andere, der vergessene Biedermeier-Friedhof Wiens. Er führt ein Schattendasein. Das Tor zu dieser Begräbnisstätte bleibt verschlossen, kein Tourist findet den Weg hier hin. Weder den Wienern noch den Besuchern der Stadt ist bewusst, dass die sonst so geschichts- und kulturbewusste Donaumetropole hier ein Kulturgut verkommen lässt, das in absehbarer Zeit für immer verloren ist, wenn nichts geschieht. Von der Sanitätsreform von Kaisers Joseph II.im Jahr 1784 bis zur Gründung des Wiener Zentralfriedhofs 1874 war der Währinger Friedhof die offizielle Begräbnisstätte aller in Wien verstorbenen Juden. Joseph II. hatte, beeinflusst von aufklärerischen Ideen aus Frankreich, 1782 ein „Toleranzpatent“ erlassen. Damit gewährte er einer beschränkten Anzahl ausgewählter Juden Aufenthalt und Arbeit in der Reichshauptstadt und Residenzstadt Wien. Sie kamen vor allem aus Böhmen, Mähren und Ungarn. „Siegfried Philipp Wertheimer k. k. priv. Grosshändler geb. 1777 gest. 1836“, ist auf einem der Grabsteine zu lesen – Wertheimer war einer jener vom Kaiser in Wien zugelassenen Juden. Doch schon zuvor hatten sich in Wien Juden aus dem Os–manischen Reich niedergelassen. Als Untertanen der Hohen Pforte genossen sie, im Gegensatz zu Juden aus allen anderen Ländern, aufgrund von Friedensverträgen mit dem Habsburgerreich das Aufenthaltsrecht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts machten sie Wien zu einem Zentrum des europäischen Orienthandels. Die sephardischen Juden sind in einer eigenen Abteilung des Währinger Friedhofs beerdigt. Ihre Grabstätten, Stelen oder Grabhäuser, unterscheiden sich auffällig von jenen der aschkenasischen Juden. Viele der hier bestatteten jüdischen Familien gehörten zu den führenden Exponenten der kulturellen Blüte Wiens in der frühen Ringstraßen-Ära und des wirtschaftlichen Aufschwungs der industriellen Revolution. Hier liegt beispielsweise Heinrich Ritter von Sichrovsky begraben, Mitbegründer und Direktor der Kaiser-Ferdinand-Nordbahn, einer der ersten Eisenbahnlinien der Monarchie, welche die Kohlenreviere Schlesiens mit Wien verband. Der aus Odessa stammende Bankier Joachim Ephrussi, einer der Väter der Creditanstalt, ruht unter einem prunkvollen Marmorsarkophag mit Löwenfüßen. Fanny von Arnstein führte den ersten literarisch-politischen Salon Wiens. Ihr Haus war Mittelpunkt festlicher Empfänge. Am Rande des Wiener Kongresses trafen sich dort die führenden Staatsmänner Europas wie der Herzog von Wellington und Wilhelm von Humboldt. Sie unterstützte den Freiheitskampf der Tiroler gegen Napoleon, und in ihrem Salon soll der erste Weihnachtsbaum Wiens gestanden sein – eine aus ihrer Heimatstadt Berlin mitgebrachte Tradition, die bald große Verbreitung fand. Vier Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, im Jahr 1942, wurde das im Eigentum der Israelitischen Kultusgemeinde stehende Friedhofsareal von 24.000 Quadratmetern an die Gemeinde Wien zwangsverkauft; der Erlös ging an ein Sperrkonto, auf das nur die Behörde Adolf Eichmanns Zugriff hatte. In einem rund zehn Prozent des Areals umfassenden Sektor wurde ein Löschteich ausgehoben, an die 2.000 Gräber wurden dabei zerstört. Das Aushubmaterial wurde für Planierungsarbeiten verwendet, unter anderem für den Platz vor dem Wiener Westbahnhof. Dass der Großteil des Friedhofs den systematischen Zerstörungen durch die Nazis entgehen konnte, war der beherzten Initiative eines Beamten der Wiener Stadtverwaltung zu verdanken: Er ließ das Friedhofsareal in ein Vogelschutzgebiet umwidmen. Er konnte allerdings den Friedhof nicht vor der Schändung vieler Grabstätten bewahren. Die Gebeine von hunderten hier begrabener Juden wurden exhumiert und im Rahmen des nationalsozialistischen Rassenwahns pseudowissenschaftlichen Knochenvermessungen zugeführt. Für diese makabren Experimente wurden auch die sterblichen Überreste jener längst zur Legende gewordenen Fanny von Arnstein missbraucht. Sie wurden seither nicht wiedergefunden. Viele der im Währinger Friedhof ausgegrabenen Schädel landeten im so genannten Rassensaal, dem berüchtigten Saal XVII des Wiener Naturhistorischen Museums. Dieser wurde erst Mitte der neunziger Jahre geschlossen. Ob sich allerdings noch Gebeine in dem Museum befinden, ist bis heute nicht geklärt. Im Jahr 1955 wurde das Areal der wiedergegründeten Kultusgemeinde zurückerstattet. Den für den Bau des Löschteichs zerstörten Teil des Friedhofs hat die Kultusgemeinde derStadt Wien gegen eine Entschädigungund unter der ausdrücklichen Zusicherung überlassen, dass dieser künftig als Grünfläche bewahrt und nicht überbaut werde. Dies war entscheidend, denn gemäß jüdischen Religionsvorschriften darf ein Grab bis zum Erscheinen des Messias nicht aufgelöst und auch nicht überbaut werden. Trotz der Zerstörungen durch den Aushub des Löschteiches befanden sich hier noch Gräber. Aber die Gemeinde Wien errichtete ungeachtet ihrer Garantien wenige Jahre später ein Hochhaus. Der Gemeindebau erhielt den Namen des jüdischen Schriftstellers Arthur Schnitzler. Der Friedhof Währing mit seinen ursprünglich mehr als 8.000 Gräbern und den kunsthistorisch wertvollen Grabdenkmälern ist in den Worten der Historikerin Tina Walzer ein einzigartiger steinerner Zeuge jüdischer Geschichte in Wien. Seit Jahren führt diese führende Expertin für jüdische Friedhöfe in Österreich einen einsamen Kampf um die Sanierung und wissenschaftliche Aufarbeitung dieses kulturellen Schatzes. Wer den Friedhof Währing in den letzten Jahren besuchte, konnte den fortschreitenden Zerfall nicht übersehen: Umgestürzte Bäume und herabgefallene Äste haben reihenweise Grabmäler zertrümmert, Umwelteinflüsse machen Reliefs und Inschriften unkenntlich, Dornengestrüpp überwuchert die Wege. Walzer unterstreicht die Bedeutung dieses Kulturdenkmals: Hier liegen die Väter jener kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Elite, welche die Donaumetropole in ihrer Glanzzeit des Fin de Siècle prägte. Die Nachkommen der hier beerdigten Juden sind dem Holocaust zum Opfer gefallen oder wurden als Flüchtlinge über die ganze Welt zerstreut. Es gibt kaum noch Angehörige, die sich um die Gräber kümmern könnten. Diese gehen nach Erbrecht als erbenloses Gut an den Staat. Die heutige Kultusgemeinde mit ihren 7.000 Mitgliedern, Rechtsnachfolgerin der zerstörten Gemeinden, ist wegen der Überalterung ihrer Mitglieder sowie der Aufnahme von Flüchtlingen so stark gefordert, dass sie keine Kapazitäten für die Pflege der insgesamt wohl 200.000 Gräber aus der Zeit vor 1938 übrig hat. Die Stadt Wien hat bisher ihre Verantwortung für die dringend notwendige Sanierung vor sich hergeschoben. Der Restitutionsbeauftragte der Stadt Wien, Kurt Scholz, macht im Gespräch deutlich, dass er ein verstärktes Engagement des Bundes erwarte. Im so genannten Washingtoner Abkommen vom Jänner 2001, das Entschädigungsleistungen für Vermögensverluste und Zerstörungen regelt, hatte sich die Republik dazu verpflichtet, „zusätzliche Unterstützung für die Restaurierung und Erhaltung aller jüdischen Friedhöfe in Österreich“ zu leisten. Wie alle Einrichtungen der anerkannten Religionsgemeinschaften steht auch der Währinger jüdische Friedhof unter nationalem Denkmalschutz. Genützt hat ihm das allerdings bisher nichts. Dieser Beitrag erschien am 15. Februar 2006 bereits in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Mit der Flut an Reaktionen, die dieser Artikel auslöste, hatte Ritterband nicht gerechnet. Für NU schildert der NZZ-Korrespondent diese Erfahrung: Das verborgene Kulturdenkmal Erst jetzt, als NZZ-Korrespondent, habe ich den Währinger jüdischen Friedhof entdeckt – dieses wichtige Kulturdenkmal Wiens war mir völlig unbekannt, obwohl ich diese Stadt seit meiner frühesten Kindheit, auf Besuch bei den Wiener Großeltern, mindestens zweimal pro Jahr besucht hatte und ihre Sehenswürdigkeiten ausnahmslos zu kennen glaubte. Dass ich trotz meiner gründlichen Streifzüge durch Wien nie auf den Friedhof Währing gestoßen bin, sagt einiges über das Schattendasein, das dieser seit Jahrzehnten führt. Die Historikerin Tina Walzer, die sich am gründlichsten mit dieser jüdischen Begräbnisstätte befasst hat, führt in immer kleineren Intervallen immer größere Besuchergruppen durch den Währinger Friedhof. Sie berichtet über das ständig wachsende Interesse an diesem fast völlig unbekannten Friedhof und seiner Geschichte – aber auch über den krassen Wissens- und Informationsmangel zu diesem Thema. Der vor einigen Wochen in der NZZ erschienene Artikel zum Friedhof Währing hat die Neugier des Publikums weiter geweckt. Für mich als Autor war es bemerkenswert, dass noch nie in meiner bald 25-jährigen Laufbahn als NZZ-Redakteur bzw. NZZ-Korrespondent ein Artikel derart viel Echo ausgelöst hat – in politischen Kreisen, bei Kollegen anderer Medien, aber auch in der Öffentlichkeit. Fragen wirft nun allerdings der Umstand auf, dass – im Gegensatz zu den vielen positiven Reaktionen und den erfreulichen Manifestationen guten Willens in der nichtjüdischen Öffentlichkeit – von Seiten der Israelitischen Kultusgemeinde jegliche Reaktion auf diesen Artikel ausgeblieben ist. Bemerkenswert ist auch der unterschiedliche Grad an Unterstützung, den ich bei meinen Recherchen erhielt. Während sich verschiedene Stellen kooperativ zeigten, blieben – in auffälligem Gegensatz zur Hilfsbereitschaft, die ich bei sämtlichen Recherchen in Österreich erfahren hatte – sämtliche Anrufe und Gesprächswünsche bezüglich des Währinger jüdischen Friedhofes im Büro des offenbar zuständigen Finanzstadtrats Rieder unbeantwortet. Charles E. Ritterband (geb. 1952 in Zürich) studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Zürich sowie Staatswissenschaften an der Universität St. Gallen. Seit 1982 ist er Redakteur und Korrespondent der Redaktion für internationale Politik der Neuen Zürcher Zeitung. Für die NZZ berichtete Ritterband bereits aus Jerusalem, Washington, London und Buenos Aires. NZZ-Lesern ist Ritterband in den vergangenen Jahren als Wien-Korrespondent ein Begriff.