Der Fremdenführer Walter Juraschek gehört zur Wiener Leopoldstadt wie das Amen zur Synagoge. Nach dem Völkerkundestudium arbeitete er viele Jahre bei der Hebrew Immigrant Aid Society. Die jüdische Flüchtlingsorganisation war Drehscheibe für jüdische Emigranten aus der Sowjetunion. Ein Gespräch unter zwei Freunden.
Von Nathan Spasić
Es ist nicht schwer ihn zu erkennen: Seine markante Brille, das karierte Hemd und die Schirmkappe gehören zu seiner Grundausstattung. Man trifft ihn entweder umringt von Menschen, die er durch die jüdische Geschichte und Orte Wiens führt und/oder mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Walter Juraschek ist ein engagierter Fremdenführer in seiner Wahlheimatstadt Wien und besitzt die seltene Fähigkeit, sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen und zugleich höflich zu bleiben.
NU: Walter, du hast mir einmal erzählt, dass du im Zug zur Welt gekommen bist.
Walter Juraschek: Ja, in Transit sozusagen. Meine Mutter war im Zug auf dem Weg von Hamburg nach Hannover. Vierzig Kilometer vor Hannover setzten die Wehen ein und ich kam zur Welt. Meine Eltern waren nach dem Krieg ohne Staatsangehörigkeit und wollten in die Vereinigten Staaten emigrieren. Dann kam ich dazwischen und hatte als Kleinkind Lungenkrankheiten – keine gute Voraussetzung für die Einreise. Somit blieben wir in Deutschland. Ich bin in die Schule gekommen, doch allein mein Nachname machte mich zum Außenseiter.
Wie ging es dir damit?
Ich hatte keine Wurzeln in Deutschland und habe dort nicht gerne gelebt. Es war schlichtweg nicht mein Zuhause. Mein Vater starb, als ich 14 Jahre alt war. Die Mama folgte, da war ich Anfang 20. Und ab dem Moment war ich allein. Ich weiß auch nicht sehr viel über meine Familie. Ich studierte eine Zeit lang in Göttingen, ehe ich nach Wien gezogen bin, weil ein gewisser Professor Fielhauer damals einer der führenden Köpfe für Volkskunde an der Uni Wien war. Er war sehr progressiv, das hat mir unheimlich gefallen. Er hat nicht nur im ländlichen Raum herumgegraben, sondern sich auch mit anderen Sachen wie Arbeiterkultur befasst.
Du hast deine Sachen gepackt und bist nach Wien?
Ich hab mich für zwei Auslandssemester angemeldet, und zur Wahl standen London und Amsterdam, gar nicht so schlecht eigentlich. Ich habe Professor Fielhauer dann zufälligerweise auf einem Kongress in Regensburg gehört und beschlossen: London und Amsterdam können mich gernhaben, ich ziehe nach Wien. Nach einigen Semestern kam die Tragödie, und mein Professor ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs gestorben. Ich hatte gerade mit der Promotionsvorbereitung angefangen. Mein Thema, heute natürlich lächerlich, hätte damals zur Steinigung führen können: Ich wollte die Lebensweisen von Homosexuellen auf dem Land und in der Stadt vergleichen. Professor Fielhauers Nachfolger hätte das nie zugelassen. Daher schob ich das Ganze auf und es liegt heute noch auf der langen Bank.
Das Ende einer akademischen Karriere …
Dafür der Beginn einer anderen. Ich wurde Projektassistent am österreichischen Institut für Berufsbildungsforschung und landete schließlich bei der HIAS, der Hebrew Immigrant Aid Society. Wien war nach 1945 die große Drehscheibe für die jüdische Emigration aus der Sowjetunion und anderen kommunistischen Staaten, wie z. B. der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien. In den 1960er/1970er Jahren machten faktisch alle Auswanderer von dort in Wien Halt. Die meisten wollten nach Israel oder in die USA. In den 1980er Jahren kamen jedoch immer mehr Leute, die nach Deutschland wollten. Damals riefen alle entsetzt: „Um G’ttes Willen! Juden nach Deutschland!“ Das war das Schlimmste, was man sich vorstellen konnte. Da ich aus Deutschland kam und man der Meinung war, ich müsse mich damit auskennen, wurden diese Fälle immer mir zugeteilt.
Wie bist du damit umgegangen?
Ich habe sehr eng mit der Gemeinde in Berlin zusammengearbeitet, welche die einzige Gemeinde war, die damals Sowjetjuden aufnahm. Die Abwicklung lief jedoch immer über Wien. Es wurden immer mehr und mehr – und plötzlich saß ich 1988 auf achtzig Fällen, bei denen nichts weiterging. Also rief ich den Legationsrat in der deutschen Botschaft in Wien an, zu dem ich ein gutes Verhältnis hatte und fragte: „Sag mal, was ist da los?“ Er antwortete, dass sich der Botschafter weigere, die Emigranten durchzulassen, denn sie würden alle ohnehin nur Sozialhilfe beziehen wollen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, rief mich, den kleinen Schreibtischtäter, täglich an, um zu erfahren, wie es weitergeht. So verzweifelt waren wir alle, aber niemand hat aufgegeben. Es muss der 7. November 1988 gewesen sein, da habe ich den Delegationsrat wieder angerufen und ihm erzählt, dass die internationale Presse schon recherchieren würde und der Botschafter sich doch endlich besinnen solle. Selbstverständlich hat sich kein Medium dafür interessiert, aber anhand seiner Reaktion habe ich gemerkt, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. Am nächsten Tag kam mir der Zufall zur Hilfe. Am 8. November, dem 50. Jahrestag der Novemberpogrome, hielt Bundestagspräsident Jenninger eine Rede, die gespickt war mit antisemitischen Aussagen. Die Mikrofone in Bonn waren noch nicht abgeschaltet, da rief die deutsche Botschaft an: Alle 80 genehmigt! Und so ging es weiter. Das war der Beginn des Quotensystems.
Was genau war das Quotensystem?
Die BRD führte eine Quote für Sowjetjuden ein, die zunächst nicht begrenzt war. Eine offene Tür sozusagen. So ging es los mit dem Zustrom der sowjetischen Juden nach Deutschland.
Du warst also quasi an der Schnittstelle zwischen der Sowjetunion und dem Transit in den Westen oder nach Israel.
Irgendwann kam der Tag, an dem Israel und Russland diplomatische Beziehungen aufnahmen. Von da an war es nicht mehr notwendig, über Österreich auszuwandern, sondern man konnte sein Ansuchen direkt stellen. Damit ebbte die jüdische Emigration über Wien ein wenig ab. Von 41 Personen, die bei der HIAS gearbeitet haben, blieben nur noch fünf übrig. HIAS sorgte auch für die Emigration von persischen jüdischen Flüchtlingen zumeist in die USA. Aber auch hier gingen die Zahlen stetig zurück.
Und dann?
Dann stand ich da. Das war eine schlimme Zeit für mich, weil ich über vierzig war. Einen neuen Job zu finden war schwer, vor allem, wenn man mit seiner jüdischen Arbeitsgeschichte auf dem Buckel ankommt. Ich bekam Arbeit beim Arbeitsmarktservice für Behinderte. So wurde das damals noch offiziell genannt. Das war eine schreckliche Zeit. So viel Menschenverachtung hatte ich bis dato nie erlebt. Zum Glück wurde mir nach rund einem Jahr eine Stelle bei Rav Tov angeboten, wo man persischen Juden bei der Emigration in die USA half. Ich wurde außerordentlich respektvoll und warmherzig behandelt. Es war einfach nur unbegreiflich. Ich bin dort etwa zehn Jahre geblieben. Parallel dazu arbeitete ich in der Jugendbetreuung beim Verein Jugendzentren der Stadt Wien vor allem mit Kindern aus sogenannten Brennpunktschulen.
Was hat dich schließlich bewogen, Fremdenführer zu werden?
Unter anderem auch das, was man importierten Antisemitismus nennt.
Wie ist das zu verstehen?
Die meisten Kinder und Jugendlichen, die ich betreute, hatten Migrationshintergrund. Die ersten Jahre gingen noch, aber dann kam der 11. September 2001. Ich erinnere mich, dass ich einen Schulbesuch in einer HAK-Klasse machen musste und jubelnde Jugendliche sah, die aus Freude über das Attentat außer Rand und Band waren. Als ich die Lehrerin darauf ansprach, entgegnete sie mir nur achselzuckend, dass man nichts tun könne. Das war für mich schon eine ziemliche Offenbarung. Als ich dann eines Tages in mein Büro kam und meinen wunderschönen, mit einem Magen David verzierten, gläsernen Briefbeschwerer am Boden zerschmettert vorgefunden habe, beschloss ich so schnell wie möglich wegzukommen von dort. Ich war furchtbar erschüttert. Und dann entschloss ich mich, die Ausbildung zum Fremdenführer zu machen.
Deinen Fokus legst du insbesondere auf die jüdische Geschichte Wiens. Hattest du den Wunsch, damit auch etwas gegen Antisemitismus zu unternehmen?
Den Wunsch hätte ich schon, nur mir fällt leider nichts Effizientes ein. Es gibt da von der IKG eine wunderbare Einrichtung zur Förderung der Begegnung jüdischer Jugendlicher mit Schulklassen in Wien. Das Projekt heißt Likrat, was so viel bedeutet wie „aufeinander zugehen“. Durch das persönliche Kennenlernen der etwa Gleichaltrigen soll dem Entstehen von antisemitischen Vorurteilen vorgebeugt und entgegengewirkt werden. Soweit ich informiert bin, kann dieses Projekt große Erfolge verzeichnen.
Aber du bist Pensionist. Warum machst du diese Touren immer noch?
Meine Pension ist nicht so hoch. Davon könnte ich zwar leben, nur würden sich die Maßschuhe dann nicht mehr ausgehen – wobei, ich besitze leider keine Maßschuhe. Wenn mir wirklich an Geld so viel liegen würde, dann hätte dieses Interview nie stattfinden können, weil ich mit meinem Toches in der Sonne auf den Bahamas liegen würde. Gelegenheit, um viel Geld zu verdienen, hätte ich mehr als einmal gehabt. Aber Geld ist für mich nicht so wichtig.
Das sagt sich sicher einfacher, als es gemeint ist …
Ich mag diese Arbeit tatsächlich, und ich mache sie mit dem Herzen. Weil den meisten Leuten auch nicht klar ist, wie wichtig die Wiener Juden für diese Stadt gewesen sind. Dieses Wien wäre ohne den Beitrag der österreichischen Juden aus dem Kaiserreich und allen Ecken der Monarchie nie so eine wunderbare Stadt geworden. Es wäre ein mittelalterliches Wüstendorf.
Man braucht nur an die prächtige Ringstraße zu denken.
Das ist ja nur ein ganz kleiner Teil. Ich versuche sehr oft hier im zweiten Bezirk den Gästen klarzumachen, was das für Ort war. Wie viele Berühmtheiten dieser Bezirk vorgebracht hat. Eigentlich müsste man laut weinen. Wenn ich in die Czerningasse gehe: Viktor Frankl wohnte da, vis-à-vis hatte Alfred Adler sein Büro. Die Volksschule am Czerninplatz hat Lise Meitner besucht. Carl Djerassi hat sie besucht. Es war von Kindheitstagen ein Schmelztiegel der Intellektualität. Dann diese vielen jüdischen Wissenschaftler, die es gegeben hat. Die vielen Nobelpreisträger. Schau dir einmal die Liste der österreichischen Nobelpreisträger an. Das darf nicht vergessen werden. Und deshalb ist es ja auch immer schon ein wichtiger Bestandteil meiner Führungen, egal durch welche Bezirke. Man kommt ja immer wieder vorbei an den vielen Steinen der Erinnerung. In ganz Wien. Wenn wir über mehr als 65.000 jüdische Opfer sprechen, dann ist das eine Zahl. Bekommt aber eine der Zahlen ihren Namen zurück, ein Geburtsdatum und ein persönliches Schicksal, dann ist es wieder ein Mensch. Und dieses Erinnern an die Opfer, das ist der Grund, warum ich das mache.
Mit deiner Arbeit setzt du gewissermaßen auch einen Stolperstein?
Der Begriff Stolperstein ist in Wien verpönt. Das lassen wir den Deutschen. Der deutsche Initiator Günther Demnig hat es der Liesl Ben David-Hindler damals verboten. Und hat sich ihr gegenüber sehr schlecht benommen. Deshalb heißt es bei uns „Steine der Erinnerung“. Also ja, ich möchte die Erinnerung wachhalten.
Wie lange machst du das noch?
Fünf Jahre. Ich merke, dass meine Kraft langsam abnimmt. Verstehst du? Oft bin ich ja auch mit Nachkommen von Vertriebenen und Ermordeten unterwegs. Das ist immer sehr emotional und kostet sehr viel Kraft. Gut gemeinte Ratschläge von Freunden, dass ich mich abgrenzen muss, funktionieren nicht. Man kann sich vom Leid, das andere erlitten haben, nicht abgrenzen. Dennoch hat sich in Wien sehr viel verändert. Als ich hierhergekommen bin, war es eine graue Stadt. Dein schwarzes Hemd ist vermutlich heller als der Stephansdom damals war. Kaum Spuren von einem jüdischen Leben. Heute ist alles anders, das kann man sich gar nicht vorstellen. Die Leute sind aufgeklärter. Das gibt mir Hoffnung, denn ein Pessimist bin ich nicht!