Im beschaulichen Pötzleinsdorf wurde jüdische Stadtgeschichte geschrieben. Besondere Bedeutung kam dabei den architektonisch bemerkswerten Villen zu.
Pötzleinsdorf. Ein Experiment, eine neue Erfahrung. Denn über den Ort zu schreiben, in dem ich nicht nur aufgewachsen bin, sondern auch bis heute lebe, ist speziell. Geschichte, eigene Erinnerungen und die Gegenwart vermischen sich zu einem höchst merkwürdigen Ganzen.
Mein Leben lang bin ich entweder mit der Straßenbahn oder mit dem Auto gefahren – und nun habe ich endlich meine Straße zu Fuß erobert, die Häuser und Villen in der unmittelbaren Umgebung wahrgenommen. Da gibt es eine Villa mit wunderbaren Majolika-Verzierungen, angebaut an eine andere Villa, die so gar nicht dazu passen möchte. Dazu die vertrauten Villen und die mir bekannten Geschichten über Freunde meines Urgroßvaters, meiner Familie und damit auch über mich selbst. Es sind Geschichten, die das 20. Jahrhundert umfassen: türkische Kaufleute der Zwischenkriegszeit, jüdisches Großbürgertum, Profiteure der Nazizeit und behütete Kindheit der 1970er Jahre. Was für eine Bandbreite tut sich da auf.
Sommerfrische am Stadtrand
So vieles geht im alltäglichen Blick unter und drängt nun an die Oberfläche. Menschen werden zum Leben erweckt, die einst Pötzleinsdorf als sogenannte „Neuhäusler“ prägten. Die ansässigen Pötzleinsdorfer sahen sich als die „Althäusler“, in deren Weinbauernort plötzlich die Städter kamen, um der schlechten Luft zu entfliehen. Pötzleinsdorf wurde zum Ort der Sommerfrische: Die Neuankömmlinge erwarben Grundstücke, erbauten Villen und schufen eine eigene Gesellschaft, die familiär und geschäftlich miteinander verbunden ist. die „Althäusler“ begegneten diesen Entwicklungen mit einer gewissen Skepsis.
In Pötzleinsdorf begegnen mir viele namhafte Architekten, von der Ringstraße bis zum Bauhaus finden sich alle Stilrichtungen. Bekannte und vergessene Namen befinden sich darunter: Alexander Neumann und Jakob Gartner als Vertreter der Ringstraße, Friedrich Ohmann als Vertreter des Jugendstils, Josef Frank und Adolf Loos bringen die Moderne nach Pötzleinsdorf, ebenso wie Hans Glas, dessen Wirken bis Kalkutta reicht. Oder Friedrich Schön, der auch in Kairo baut.
Die Recherche für das Buch Die Villen von Pötzleinsdorf führt mich in die ganze Welt: Nachkommen ehemaliger Villenbesitzer leben heute in Südamerika, den Vereinigten Staaten, Südafrika, England und Schweden. Sie lassen mich teilhaben an autobiografischen Aufzeichnungen, schicken Fotos und interviewen ihre fast hundertjährigen Mütter, um deren Erinnerungen an ihre Wiener Kindheit festzuhalten. In Kolumbien begegne ich den Nachkommen von zwei Pötzleinsdorfer Familien – die beiden kennen einander nicht und finden jetzt durch dieses Projekt zusammen.
Einblick in die Wiener Seele
Das Jahr 1938 bringt einen völligen Kahlschlag mit sich. Die Villenbesitzer verschwinden, werden verfolgt, verhaftet, vertrieben, ermordet. Die Anzahl der enteigneten Besitzungen erweist sich als erschreckend hoch. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchen die Familien, ihr Eigentum zurückzubekommen, meist endet dies in einem Vergleich, denn die Diskussionen um Erträgnisse oder Investitionen zermürben. „Ich bin es müde, die gegenständliche Rückstellungssache zu urgieren. Ich habe dies wiederholt mündlich und schriftlich getan. So etwas ist mir noch nicht vorgekommen, obwohl ich an manches in Rückstellungssachen gewöhnt bin“, schreibt ein Rechtsanwalt im Jahr 1953. Dies sagt eigentlich alles.
Viele der Villen wechseln in den 1950er Jahren wieder den Besitzer und müssen gesichtslosen Wohnhausanlagen weichen. Die Geschichte der ehemaligen Eigentümer und Bewohner interessiert niemanden. Zugleich gewähren die Rückstellungsakten einmal mehr einen tiefen Einblick in die Wiener Seele. Es wird gelogen, die ehemaligen Eigentümer müssen sich wehren und das Gegenteil nachweisen. Meistens gelingt es ihnen, doch der Kraftaufwand ist enorm – und wohl auch die Abscheu, sich nach dem Ende der Naziherrschaft mit denselben Menschen weiterhin auseinandersetzen zu müssen.
Die Korrespondenzen ziehen sich zum Teil bis in die 1970er Jahre, denn über Häuser kann relativ einfach entschieden werden, nicht jedoch über Aktienbesitz oder Steuerabgaben. Da fehlen Bankunterlagen, wird über Umrechnungskurse debattiert, müssen Aktien neu bewertet werden. Die Antragsteller bleiben erstaunlich ruhig, höflich und langmütig.
Ich möchte mit diesem Buch einen Gedankenanstoß geben, sich mit der nächsten Umgebung zu beschäftigen, zu überlegen, wer denn früher in diesem Haus gelebt hat, welche schönen und traurigen Ereignisse stattgefunden haben. Um ein wenig in diese Welt einzutauchen, gibt es die Buchpräsentationen „to go“. Auf solchen Spaziergängen durch Pötzleinsdorf werden die Villen und deren Geschichten auf besondere Art lebendig.
Termine und Infos für Spaziergänge unter www.arnbom.com
Die Villen von Pötzleinsdorf. Wenn Häuser Geschichten erzählen
Amalthea, Wien 2020
272 S., EUR 26,–