Wie ich als Muslim zum Antisemiten erzogen wurde

Im Friedensdorf Neve Shalom leben Juden und Araber friedlich zusammen. Die Grundschule unterrichtet viele Kinder auch aus der Umgebung in beiden Sprachen. Hier findet Arabischunterricht für die jüdischen Kinder statt. ©C&M Fragasso / VISUM / PICTUREDESK.COM

In Westeuropa ist oft von importiertem Antisemitismus die Rede. Zu Recht, wie ich als in Algerien sozialisierter Muslim weiß.

Von Abdel-Hakim Ourghi

Wer sich schreibend oder erzählend an etwas erinnert, möchte, dass seine Erinnerungen mit anderen geteilt und festgehalten werden. An dieser Stelle möchte ich über meine eigene Geschichte mit dem Antisemitismus schreiben. Meine Erfahrung möchte ich schriftlich festhalten, denn sie soll nicht ins Vergessen übergehen.

Mit dreiundzwanzig Jahren kam ich 1992 als indoktrinierter Antisemit nach Deutschland. Ich kann mir heute vorstellen, dass viele Musliminnen und Muslime, die in den westlichen Ländern leben, nicht anders erzogen wurden als ich. Unsere Sozialisation in unseren Herkunftsländern wollte uns in den Zustand des unsterblichen Hasses gegen die Juden versetzen. Ich hasste Juden und den Staat Israel, und alles, was damit zu tun hatte, habe ich vehement abgelehnt.

Ignorierte Warnungen

Nur ein Grundsatz galt für mich: Die Juden sind die Täter, und die Muslime sind die Opfer. Schuld an der Misere der Muslime in der ganzen Welt, so dachte ich, tragen die Juden. Und somit werden die Juden zum Inbegriff des Anderen, zum ewigen Feind, der die Muslime bedroht. Die Juden als Täter und wir Muslime als Opfer: Diese Dualität bestimmt heute, mehr denn je, das Denken und Handeln vieler Muslime, sowohl in muslimischen Ländern als auch im Westen.

Schon 2003 machte der Politikwissenschaftler Bassam Tibi in einem Artikel in der Zeit auf den „importierten Hass“ in Europa lebender Muslime aufmerksam. Aber solche Analysen, die heutzutage aktueller denn je sind, werden oft nicht ernst genommen. Die Erziehung in den Moscheen, in den Schulen und in den Hochschulen ist bis heute darauf bedacht, dass die Kinder beziehungsweise alle Menschen im Hass gegen die Juden und gegen Israel erzogen werden.

Diese Erziehung lässt gar keinen Raum, um anders zu denken. Ich selber war geistig wie gelähmt. Für Kritik an solchen Überzeugungen gab es keine Möglichkeit, denn jeder, der dies versuchte, würde als Feind des Islam und der Muslime verurteilt. Aus Angst vor Sanktionen tat dies niemand in der Öffentlichkeit. Ohne Fragen glaubte ich, dass die Juden die volle Verantwortung für das Leiden der Musliminnen und der Muslime in der ganzen Welt tragen. Wie genau geschah das?

Jude, benimm dich

Schon mit vier oder fünf Jahren hörte ich zum ersten Mal das Wort „Jude“ (im Algerischen: „yhudi“) in der Koranschule. Mein damaliger Koranlehrer sagte einem Jungen: „Du Jude, benimm dich“ („Ya l-yhudi traba“). Ich wusste nicht einmal, was das Wort bedeutet. Aber für mich war es wichtig, dass ich mich gut benehme, damit ich nicht „Jude“ genannt wurde. Auch während meiner Grundschulzeit hörte ich immer wieder während des Unterrichts, dass Lehrer vom Wort „Jude“ Gebrauch machten, um Schüler zu beleidigen.

Als Kinder spielten wir wild vor unseren Häusern. Ich erinnere mich bis heute daran, wie uns der Vater meines Freundes erwischte. Er sagte zu seinem Sohn: „Habe ich dir nicht gesagt, dass du mit dem Sohn des Juden nicht spielen darfst?“ In der sechsten Klasse sagte der Religionslehrer zu einem meiner Mitschüler: „Bist du Jude oder Muslim? Warum willst du keine Ruhe geben?“

Bei Beschimpfungen oder Beleidigungen gehörte das Wort „Jude“ zum Alltag. Bei Streitereien zwischen Kindern bezeichneten die Eltern sie immer wieder als jüdische „Rachsüchtige“. Man sagte auch: „Du bist wie die Juden. Du suchst nur Probleme.“ Wenn man sich abweichend von den Normen verhielt oder anders dachte, dann bekam man den Satz zu hören: „Barka min tayhudiyat“, das heißt: „Du benimmst dich wie ein Jude – hör auf damit!“

Das Wort „Jude“ gilt unter Muslimen bis heute als Schimpfwort. Alles, was böse ist, wird mit Juden in Verbindung gebracht. Schon während meiner Jugend verinnerlichte ich die Gleichsetzung von geldgierigen Menschen mit „den Juden“. Auch die Beschimpfung „geldgierige Juden“ ist geläufig. Als ich siebzehn Jahre alt war, erzählte uns unsere Geschichtslehrerin im Gymnasium, dass die Juden die Welt durch ihren Reichtum beherrschen und kontrollieren würden.

Wenn man jemanden als Egoisten beleidigen will, sagt man im arabisch-islamischen Raum: „Er ist ein Jude, weil er nur an seine Interessen denkt.“ Jeden Freitag beendete unser Imam, der mein Onkel mütterlicherseits ist, seine Predigt auf der Kanzel der Moschee mit dem Bittgebet: „Möge Allah die ungläubigen Feinde des Islam und der Muslime allesamt vernichten. Möge Allah die verfluchten Juden erniedrigen und zerstören! Möge Allah die Muslime im Kampf gegen die Juden unterstützen.“

Bis heute wird freitags oder bei Predigten während religiöser Feiertage dieses Bittgebet in den Moscheen Algeriens und anderer arabischer Länder wiederholt. Die Kanzel wird so dazu missbraucht, eine Kultur des Hasses zu predigen. Bis heute beherrscht die Muslime eine tiefe Abneigung gegen die Juden. Antisemitische Stereotype sind in der algerischen Gesellschaft virulent, sie sind in hohem Maße integrativer Bestandteil der kulturellen Sozialisation der Menschen.

Projektionsflächen

Im Dezember 2019 besuchte mich mein Bruder mit seiner Familie. Sie leben in Algerien. An einem Abend machten wir einen Spaziergang im Freiburger Stadtteil Wiehre. Ich erklärte seinen Kindern, was die Stolpersteine auf den deutschen Straßen bedeuten. Sein vierzehnjähriger Sohn sagte mir plötzlich: „Als ich in der dritten Klasse in der Grundschule war, hat uns unsere Französischlehrerin gesagt: ,Ich hasse die Juden und verneige mich vor Hitler, weil er die Juden hingerichtet hat.ʻ“ Solche Sätze prägen die muslimischen Kinder, und sie werden nicht so einfach vergessen.

1990 legte die islamistische Partei Islamische Heilsfront (FIS) einige algerische Städte durch Protestaufrufe zu Ungehorsam gegen den damaligen Staat lahm. Zu ihren Parolen bei den Demonstrationen gehörte der Satz: „Khaibar, Khaibar, oh ihr Juden! Mohammeds Heer wird bald wiederkommen!“ Der Slogan ist eine Anspielung auf den Unterwerfungszug von Mohammeds Heer im Frühjahr 628 gegen die damals von Juden besiedelte Oase Khaibar, die etwa 150 Kilometer nördlich von Medina im heutigen Saudi-Arabien liegt.

Dieser antisemitische Satz wird von vielen Muslimen immer wieder bei antisemitisch aufgeladenen Protesten gegen den Staat Israel gesungen, jüngst bei propalästinensischen Demonstrationen in Deutschland. In den algerischen Medien ist bis heute nie die Rede vom Staat Israel, sondern nur von dem „zionistischen Gebilde“ oder der „zionistischen Besatzung“. Die Ächtung der Juden dient als Projektionsfläche für Probleme und Ängste der Menschen, damit deren Aufmerksamkeit von realen politisch-wirtschaftlichen Problemen abgelenkt wird.

Profitable Opferrolle

Ich bin einmal pro Jahr in Algerien und würde es nicht wagen, in der Öffentlichkeit zu sagen, dass ich ein Freund Israels oder der Juden bin. Es dauerte Jahre, bis ich lernte, dass die Juden nicht die Feinde der Muslime und dass sie nicht anders als andere Menschen sind. Dies geschah nicht in Algerien oder einem anderen muslimischen Land, sondern erst in Deutschland.

Heute scheint es mir, dass die islamische Kultur ohne Feindbilder nicht überlebensfähig ist. Sie müssen bewahrt und aufrechterhalten werden, um zu verhindern, dass sie sich mit den eigenen, hausgemachten Problemen auseinandersetzen muss. Ihre seit Jahrhunderten andauernde Sinnkrise mit ihren politisch-wirtschaftlichen Dimensionen benötigt Israel, die Juden und den Westen als Feinde. Denn nur so kann die ewige Opferrolle der Muslime gepflegt werden, und nur so glaubt man den inneren Frieden in den muslimischen Ländern und den muslimischen Gemeinden im Westen gewährleisten zu können.

Durch die angebliche Schuld der Juden und des Westens erübrigt sich die eigene Übernahme von Verantwortung. Israel und die Juden als Feinde intensivieren nicht nur den Opferstatus der Muslime, sie machen auch die Verschwörungstheorien salonfähiger, die seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der muslimischen Sozialisation sind. So werden die Muslime in ständige Panik vor den Juden versetzt, indem man ihnen weismacht, die Juden agierten im Geheimen als Verschwörer, die nur einen Plan verfolgten: die Bekämpfung des Islam und der Muslime.

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