Wer in Österreich Animationsfilme macht, verdient damit kaum Geld, gegen die internationale Konkurrenz aus Hollywood und Asien anzukämpfen, ist schwer. Die Kunst des gezeichneten oder computeranimierten Bewegtbildes führt hierzulande ein Nischendasein. In dieser Nische will sich die junge Österreicherin Shelly Gertan fix einrichten.
Von Gabriele Flossmann
Ein Teufelskreis: Wenn das Geld fehlt, wird das Endprodukt schlecht. Wenn das Endprodukt schlecht ist, bleibt das Publikum aus. Wenn das Publikum fehlt, gibt es für neue Projekte kein Geld. Dabei werden Animationsfilme auch in Österreich meist zu Blockbustern, und zwar nicht nur jene aus dem Hause Disney. Pixar verdient mit Animationsfilmen wie Shrek, Toy Story oder Findet Nemo Millionen. Am Anfang standen aber vor allem Rückschläge. Überleben konnte Pixar nur dank der Finanzspritzen von Apple-Guru Steve Jobs. Kaum jemand erinnert sich, dass der Höhenflug von Luxo Jr., dem ersten Film von Pixar-Gründer John Lasseter, in Österreich mit dem Gewinn einer Goldenen Nika bei der Ars Electronica in Linz begann. Heute spielt der Kurzfilm über eine verspielte Stehlampe als Signation von Pixar vor jedem seiner Kinohits. Trotzdem führt, was die Herstellung betrifft, die Kunst des gezeichneten oder computeranimierten Bewegtbildes hierzulande bestenfalls ein Nischendasein. In dieser Nische will sich die junge Österreicherin Shelly Gertan fix einrichten. Zu den Preisen, die sie für ihre Arbeiten bisher schon einheimsen konnte, zählt auch eine Auszeichnung 2021 beim Jüdischen Filmfestival in Wien. Ihr beeindruckend reifer und auf internationalem Niveau gestalteter Wettbewerbsbeitrag ist unter dem Titel Trotzdem nach wie vor via Internet abrufbar. Wochen-, ja, monatelang hat Shelly Gertan einzelne Körperteile gezeichnet, mit einem speziellen Computerprogramm zusammengefügt und animiert. Nun möchte sie ihre Ausdauer in ein eigenes Studio in Wien investieren und damit im internationalen Business mitbestimmen. Das könnte funktionieren. Denn schon seit Jahren gehört es zum Standard der Filmindustrie, dass Trickfilmspezialisten für sogenannte Realfilme Spezialeffekte zuliefern, wie etwa die Saurier für Jurassic Park, diverse Begegnungen mit Außerirdischen oder auch Erdbeben und Tsunamis in Katastrophen- und Weltuntergangsfilmen.
NU: Woher kommt die Begeisterung für den Animationsfilm?
Shelly Gertan: Ich bin mit Animationsfilmen aufgewachsen. Diese Kunstform eignet sich ganz besonders dafür, Kindern und Jugendlichen fantasievolle Märchen und Abenteuergeschichten zu erzählen, denn in diesem Genre ist alles möglich. Animationsfilme können mit völlig neuen Bildern eine Dramatik entwickeln, die im Realfilm nicht möglich ist. Aber warum soll man diese Kunstform nicht auch nutzen, um Geschichten für Erwachsene zu erzählen? Damit sie die Fantasie, die ihre Kindheit bestimmt hat, im späteren Leben nicht verlieren. Für mich bietet die Animation auch die Möglichkeit, ein bisschen Gott zu spielen, weil ich damit Menschen und Kreaturen nach meinen Vorstellungen erschaffen kann.
Wie war Ihr Werdegang?
Schon als Kind haben mich diese Filme dazu inspiriert, eigene Geschichten zu schreiben und zu illustrieren. Damit habe ich nie aufgehört. Als Kind habe ich mich in eine Fantasiewelt versetzt, wenn ich im realen Leben mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Indem ich die Lösung meiner eigenen Probleme auf die von mir geschaffenen Charaktere übertrug, konnte ich ihnen gefahrlos zusehen, wie sie damit umgingen. Ich habe dann ihre Lösungen auf mein Leben angewendet. Im Laufe der Zeit entwickelte diese Fantasy-Welt eine Eigendynamik und wuchs zu etwas viel Größerem heran. Ein Ausdruck davon ist meine Animationsgeschichte Reyn: Angel of Freedom, ein animiertes Fantasy-Drama-Musical für Jugendliche und junge Erwachsene. Wöchentlich veröffentliche ich auf Wetboon neue Webcomic-Episoden von Reyn, aber ich möchte sie auch zur Geschichte eines Films machen. In der Hoffnung, dass sie anderen auf die gleiche Weise helfen kann, wie sie mir geholfen hat: Selbstbewusstsein, Reflexion, Empathie zu lernen und das Gesamtbild in unserem Leben zu sehen.
Hatten Sie schon als Kind diesen Berufswunsch und haben Sie ein entsprechendes Studium absolviert?
Als ich mit der Schule fertig war, kam für mich ein Kunststudium nicht in Frage – ich sollte und wollte zuerst einmal etwas studieren, das mir später ermöglichen würde, meine Rechnungen zu bezahlen. Ich habe also mit Psychologie begonnen, auch in der Hoffnung, die Figuren meiner Animations-Geschichten –wie etwa Reyn – zu verbessern und überzeugender zu gestalten. Insgeheim sehnte ich mich nach einem Geschichtenerzählkurs und bewarb mich für das Online-Programm von SCAD. Ich bekam sogar ein Teilstipendium. 20th Century Fox veranstaltete einen Malwettbewerb. Ich nahm mir vor, dass ich mich für einen künstlerischen Beruf entscheiden würde, sollte ich gewinnen. Würde ich aber verlieren, wäre das ein Zeichen, dass ich nicht gut genug bin. Eigentlich eine schreckliche Art, Lebensentscheidungen zu treffen. Aber ich habe gewonnen und den Preis von 1.000 US-Dollar für meine erste Studiengebühr verwendet. Ich habe das Psychologiestudium abgebrochen und während meines Online-Studiums bei SCAD zwei Jahre lang als Chefsekretärin in einem Hedgefonds gearbeitet. Ich lebte damals in Wien, meine Familie hatte nicht die finanziellen Mittel, um mich auf ein College im Ausland zu schicken, also habe ich in dieser Zeit so viel wie möglich von meinem selbstverdienten Geld gespart.
Konnten Sie dann ein einschlägiges Studium in den USA beginnen?
Ja, ich bin dann in die USA gezogen. Der plötzliche Wechsel war hart, vor allem mit meinen begrenzten Finanzen, aber es hat auch viel Spaß gemacht. Ich habe dort Menschen getroffen, die bis heute zu meinen engsten Freunden gehören, und lernte mehr, als ich mir hätte vorstellen können. Allerdings ging mir sechs Monate vor dem Abschluss das Geld aus. Studienkredite waren für mich nicht möglich, also musste ich wieder zu arbeiten beginnen, anstatt mein Studium fortzusetzen. Mein ehemaliger Arbeitgeber beim Hedgefonds erfuhr davon und unterschrieb einen Kredit für mich, damit ich meinen Abschluss machen konnte. In eine ähnliche Situation geriet ich auf der Suche nach meinem ersten Job in der Animation-Branche. Nach 150 abgelehnten Anträgen und nachdem mein Aufenthaltsvisum schon fast abgelaufen war, traf ich Shabnam Rezaei. Sie ist Regisseurin, Produzentin, Mitbegründerin der Big Bad Boo Studios und für die erste Kinderserie mit einem LGBTQ-Protagonisten verantwortlich. Sie gab mir die Gelegenheit eines Praktikums und brachte mir mehr bei, als ich in einem ganzen Jahr am College gelernt hatte.
Wie kam es zu Ihrer Teilnahme am Wettbewerb des Jüdischen Filmfestivals in Wien?
Ich bin Jüdin und in der jüdischen Gemeinde. Auf den Wettbewerb hat mich eine Freundin aufmerksam gemacht. Ein Animationsfilm über ein jüdisches Thema – das wäre doch genau das Richtige für mich. Und mich hat es gereizt, einen Animationsfilm zu machen, der mit seiner Thematik Jugendliche und Erwachsene anspricht. Dass ich dann auch noch mit meinem Film Trotzdem den 1. Preis gemacht habe, war natürlich besonders toll. Das Schöne an der Animation ist ja, dass sie ein großes Publikum ansprechen und emotional berühren kann.
Sie haben ein eigenes Animations-Studio in Wien gegründet. Wäre es für eine begabte junge Frau wie Sie nicht einfacher, bei Disney oder Pixar anzuheuern?
Es stimmt, dass es gerade in Österreich besonders schwer ist, so einen Plan umzusetzen. Hier hat diese Kunst keine Tradition, in der österreichischen Filmförderung ist Animation gar nicht vorgesehen. Es gibt auch kaum Fachleute, die man einstellen kann, das heißt, man muss von Null an beginnen. Und dann ist es natürlich auch eine Frage des Geldes. Der Gedanke, mein eigenes Studio zu gründen, hängt auch mit meiner Internet-Serie Reyn zusammen. Derzeit arbeite ich gerade daran, die Geschichte als Buch herauszubringen und suche dafür nach einem Verlag. Aber wie ich schon sagte, möchte ich daraus sehr gerne einen Film machen. Aus meinem bisherigen Leben habe ich gelernt, dass man für fast alles, was man sich wünscht, zuerst die Voraussetzungen schaffen muss – und sei es die Gründung eines Animations-Studios. Aber wie heißt es doch: Nothing ventured nothing gained. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Und gewagt habe ich schon einiges.