Dieser talmudische Ausspruch ist einer der bekanntesten, den auch Nicht-Juden kennen. Als gläubiger Mensch könnte man sagen, dass der Ewige es war, der diesen Retter zur richtigen Zeit an den richtigen Ort geschickt hat, damit er seine Mission erfüllen kann. Das Besondere an diesem Menschen ist, dass er diese Gelegenheit nicht vorbeigehen lässt und alle anderen Tätigkeiten hintanstellt.
Ein berühmter Psychotherapeut aus Amerika – ein frommer Jude, weshalb viele orthodoxe Familien mit ihren Problemen zu ihm kommen, weil sie einem nicht-religiösen Psychotherapeuten nicht trauen – erzählte folgende Geschichte: In einer sehr streng observanten Familie gab es einen revoltierenden Teenager-Sohn. Während seine Brüder alle in strengen Jeschiwot lernten und die Schwestern in ebenso frommen Mädchenschulen waren und praktisch Tag und Nacht mit dem Studieren und Einhalten der Gebote beschäftigt waren, schlich sich dieser junge Mann täglich aus der jüdischen Schule in eine Bibliothek und verschlang dort Bücher und Schriften von Philosophen und Historikern. In diesen Büchern fand er auch Ideen, die mit den frommen Vorstellungen seiner Familie nicht übereinstimmten. Die Eltern wussten sich keinen Rat und schickten diesen missratenen Sohn zu dem frommen Psychotherapeuten.
Dieser sprach mit dem jungen Mann eine Stunde und stellte fest, dass er keine psychischen Probleme hatte. Messerscharf schloss er aus dem Gespräch, dass das Problem nicht bei dem Burschen allein lag, sondern bei der ganzen Familie. Als die besorgten Eltern anriefen und fragten, was mit ihrem Sohn eigentlich los sei, schlug er vor, dass zur zweiten Sitzung die gesamte Familie antanzen sollte: Geschwister, Eltern und, wenn es sie noch geben sollte, die Großeltern. Als schließlich wirklich die ganze Familie kam, redeten zunächst alle lauthals durcheinander, bis der alte Großvater zur Ruhe rief und sagte, dass er etwas erzählen möchte.
Appell an alle
„Ich war gerade im Alter meines Enkels und wuchs in den frühen 1930er Jahren auch behütet in einer ganz frommen Familie in Polen auf. Mein Vater war Rabbiner, meine Geschwister gingen alle in Jeschiwot, selbstverständlich streng getrennt nach Buben und Mädchen. Bei uns zu Hause gab es keine Bücher, die nicht von jüdischen Themen handelten. Auch ich schlich mich, wie mein Enkel, manchmal in eine Bibliothek und fand eines Tages ein Buch von einem gewissen Adolf Hitler mit dem Titel Mein Kampf. Nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, ging ich zu meinem seligen Vater und sagte zu ihm: ‚Vater, wir müssen alle so schnell wie möglich von hier weggehen. Denn ich habe in einem Buch gelesen, dass ein Mann aus Deutschland vorhat, alle Juden nicht nur in Deutschland zu vernichten. Und mir scheint, er hat es nicht nur so dahingeschrieben, sondern er plant, es auch wirklich zu tun.‘ Mein Vater lächelte milde und sagte: ‚Man muss nicht alles glauben, was in den gojischen Büchern steht.‘ Ich versuchte ihn davon zu überzeugen, dass dieser Verrückte es ernst meinte. Vergeblich! Schließlich sagte ich ihm, dass ich, auch wenn der Rest der Familie nicht mitkommt, auf alle Fälle Europa verlassen werde. Das tat ich wirklich und erreichte nach einigen Entbehrungen Amerika.
Nach dem Krieg erfuhr ich die bittere Wahrheit, dass meine Eltern und alle meine Geschwister in der Schoah ermordet worden waren. Obwohl ich fromm geblieben bin, habe ich hier in Amerika zu arbeiten begonnen und ein erfolgreiches Business aufgebaut. Wie ihr alle wisst, finanziere ich damit auch euer Talmudstudium. Ich liebe euch alle, aber besonders nahe fühle ich mich diesem Enkel: Er hält, wie ich, Schabbat, befolgt die Koscherregeln, lernt in der Jeschiwa den Talmud. Nur für einige Stunden bricht er aus der vorgelebten Enge aus und liest ‚verbotene Bücher‘. Genau das hat mein Leben gerettet und euch in die Welt gebracht. Denn ihr wärt alle nicht am Leben, wenn ich damals nicht das grausame Buch gelesen und rechtzeitig die Konsequenzen ergriffen hätte.“
Gesunder Mittelweg
Es war mucksmäuschenstill im Raum. Der Therapeut beendete die Sitzung mit den Worten: „G’tt sei Dank seid ihr alle normal. Und vielleicht müsst ihr nur lernen, einen Sohn oder Bruder, der ein wenig von den ausgetretenen Pfaden abweicht, nicht abzulehnen, für meschugge zu erklären und zum Therapeuten zu schicken. Sondern in Liebe einen Modus Vivendi zu finden.“
Mit einem geradezu umgekehrten Problem kam einmal eine andere Jüdin zu diesem Therapeuten. Sie beklagte sich bei ihm, dass ihr Sohn sich vom Judentum vollends abwende und wahrscheinlich nicht einmal eine jüdische Frau heiraten werde. Der Therapeut fragte sie, ob sie denn den Sohn in eine jüdische Schule geschickt habe. „Nein“, antwortete sie. „Waren Sie regelmäßig in der Synagoge mit ihm?“, fragte der Therapeut. Abermals verneinte die Frau. „Haben Sie wenigstens zu Hause koscher gekocht?“, wollte der Therapeut wissen. Und sie sagte: „Vielleicht nicht ganz streng. Aber ich habe ihm jeden Freitagabend gefillte Fisch und Nudelsuppe gemacht. Und trotzdem will er jetzt nichts mehr vom Judentum wissen.“ Hier fällt die richtige Diagnose nicht schwer. Kosher-style allein genügt nicht.
Und wieder bewahrheitet sich für mich mein Credo, den gesunden Mittelweg zwischen Engstirnigkeit und Nachlässigkeit im Judentum zu suchen.
Von A wie „Ainleitung“ bis Z wie „36 Zadikim“, dazwischen F wie „Freude“ oder „Fundi“, M wie „Maseltov“, „Matura“, „Mütter“ und „Musik“ und X wie „Xperte“: Nicht zuletzt, weil es Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg mit der alphabetischen Struktur nach eigenem Bekunden nicht immer akademisch genau nimmt, ist sein ABC vom Glück. Jüdische Weisheit für jede Lebenslage eine so hinreißend lebensweise, kurzweilige und hintersinnige Miniaturensammlung, gewürzt mit jüdischem Humor, verfeinert mit talmudischen Weisheiten, reich an rabbinischem Wissen.
„Jener ist weise, der von allen bereit ist zu lernen“, resümiert der Oberrabbiner von Österreich im Kapitel V wie „Väter (und ihre weisen Sprüche)“: „Das Judentum sagt, es ist nicht genug, einfach nur Weisheit anzuhäufen, sondern wir müssen auch bereit sein, immer Neues zu lernen, und das sogar von jedem.“ Und schon in der „Ainleitung“ schreibt er: „Ich bin überzeugt davon – und das ist eine sehr jüdische Überzeugung –, dass das Lernen zu den beglückendsten Dingen im Leben gehört.“ Und Lernen mit Paul Chaim Eisenberg gehört zu den beglückendsten – und fröhlichsten! – Dingen des Lebens.